Die Listen, die Namen, die Opfer - die Menschen

Die Deportations-Opfer I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
Die Listen. Die Namen. Die Menschen.
10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
Die Deportations-Opfer I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
Auf der im Sommer 1943 entstandenen Aufnahme sieht man Zäune, Werkstätten, Unterkünfte und Teile eines Appellplatzes nichts Dramatisches. Was auf den ersten Blick fast wie eine Puppenstuben-Idylle wirkt, ist nicht die bauliche Hülle des eigentlichen Vernich- tungsbetriebes, sondern das Äußere anderer Lagerteile. Das Lager Sobibór wurde ab Anfang 1942 im östlichen Polen auf einem Gelände an einem bereits vorhandenen Gleisabzweig zwischen Chelm und Wlodawa errichtet. Im Mai 1942 begann nach Installation der Gaskammern das Morden.
Auskunft darüber, womit sich die Opfer nach ihrer Ankunft im Lager konfrontiert sahen, geben Auszüge aus einem Beitrag der Aufsatzsammlung »Im Schatten von Auschwitz: Spurensuche in Polen, Belarus und der Ukraine«.
»Nachdem ein Zug an der Rampe im Lagerinneren angekommen war, wurden die Deportierten aus den Waggons ins Lager II getrieben. Dort mussten sie sich im Freien entkleiden und ihre Wertsachen an einer „Kasse“ abgeben, die sich im Erdgeschoss des ehemaligen Forsthauses, der Lagerver-waltung, befand. Sämtliches Gepäck der Opfer kam in Magazine gegenüber des Forsthauses, wurde dort […] sortiert und nach Anweis-ungen der SS zum Abtransport für die weitere Verwendung vorbereitet. Schriftstücke und persönliche Dokumente der Opfer wurden verbrannt.
[…] Die übrigen Deportierten wurden, nachdem sie sich im Lager II entkleidet hatten, von dort aus von Trawniki-Männern und unter Aufsicht, zum Teil auch Beteiligung einzelner SS-Männer durch den […] „Schlauch“ zu den Gaskammern getrieben. In der Regel geschah dies nach Geschlechtern getrennt, Kinder gingen mit den Frauen.
Alten Menschen, Kranken, Gebrechlichen und Invaliden, die nicht selbständig laufen konnten, sowie Kindern ohne Begleitung wurde bei ihrer Ankunft mitgeteilt, dass sie in ein „Lazarett“ kämen. Mit Fuhrwerken brachte man sie dann entweder zu den Massengräbern in Lager III oder zu einer Grube östlich davon im Wald und erschoss sie.
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Menschen sind keine Nummern und Zahlen. Zur Deportation vom 10. Juni 1942 gibt es viel zu sagen. Die richtigen Worte dafür zu finden, gelingt nie ganz. Am naheliegendsten wäre es, alle Fakten des Verbrechens vollständig aufzulisten. Doch endlose Zahlenkolonnen überfordern. Eine »falsche« Versachlichung des Schreckens macht blind und taub. Der Versuch, hunderte von Namen wachzurufen, führt zu einem Gleichklang, in dem jede Individualität verhallt. Wir bringen hier gleichwohl die uns bekannten Namen, Altersangaben und Anschriften der Wiesbadener Deportations-opfer komprimiert zur Darstellung versuchen in dieser Hinsicht sogar die Annäherung an eine weitgehende Vollständigkeit. Warum? »Niemand ist vergessen« bleibt für uns eine unverzichtbare Verpflichtung. Zudem erfüllen diese Angaben den Zweck, die quantitative Dimension der NS-Aktion ins Bewusstsein zu heben. Ein Geschehen, das solchen Umfang hatte, ließ sich nicht übersehen, es sei denn man wollte davon nichts wissen. Die Gestapo-Liste der Deportation von 10. Juni 1942 führt 370 Personen namentlich auf darunter zwei Säuglinge von unter einem Jahr und einen Herrn von 73 Jahren. 21 Kinder waren jünger als zehn Jahre. Da Nordenstadt damals noch kein Ortsteil Wiesbadens war, sind die von dort deportierten Jüdinnen und Juden in der Gestapo-Liste nicht erfasst. Weitere Dokumentationslücken und - fehler entsprechen dem Bürokratie-Üblichen. Letztlich können solche Übersichten die menschliche Dimension zugefügten Leids nie fassen, lenken vom Eigentlichen ab Personen sind glücksfähige, aber zerbrechliche Lebewesen, kein Stückgut, kein Zahlenmaterial. In Menschen und ihr Schicksal kann man sich einfühlen, in Mengenangaben nicht. Auch massenhaft zugefügte Zerstörung von Leib und Leben ist für jedes Opfer stets etwas ganz Intimes und oft schrecklich Einsames. Was die etwa 380 Menschen erwartete, die am 10. Juni 1942 in Wiesbaden in einen Zug gepfercht wurden, war in jedem Fall ein Martyrium. Der Transport führte zunächst nach Frankfurt, dem Sammelpunkt für weitere Opfer dieser Großaktion - Jüdinnen und Juden aus der Messe-Stadt und zahlreichen benachbarten Landkreisen. Am Morgen des 11. Juni 1942 verließ der neu zusammengestellt Zug-»Da 18« mit insgesamt etwa 1.120 bis 1.190 Deportierten die Main-Metropole. Das Fahrtziel war angeblich Izbica, tatsächlich aber Lublin im östlichen Polen. Es gibt Belege dafür, dass die Reise für rund 200 »arbeitsfähige«, jüngere Männer im KZ Majdanek endete. Fast alle kamen dort schon nach wenigen Wochen zu Tode. Alle anderen verbrachte man unmittelbar in das Vernichtungslager Sobibór und setzte sie dem Erstickungstod durch Motorabgase aus. Wie lange diese Tortur dauerte, ist unter »Zug -D455/Das Vernichtungslager Sobibór« nachzulesen.
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Josef Steinberg nimmt Abschied

Die Deportations-Opfer I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
Josef Steinberg wurde am 2. April 1893 in Berlin geboren. Er ergriff den Beruf, den schon sein Vater Elias ausgeübt hatte Tabakmeister (dessen Aufgabe es ist, sicherzustellen, dass in Tabakwaren jeweils die »richtige« Mischung von Tabaksorten und Blattarten aus den »richtigen« Jahrgängen, Anbaugebieten und Herkunftsländern enthalten ist). Am 17. Juli 1915 zog man ihn zur 7. Bayerischen Feldartillerie ein. Sein soldatischer Einsatz endete mit einer Kriegsverletzung. Wann und warum es Josef Steinberg nach Wiesbaden verschlagen hat, ist nicht bekannt. Am 16. November 1920 heiratete er in unserer Stadt die am 8. Mai 1877 in Lodz in Polen geborene Jüdin Lydia Bielschowski. In der Heiratsurkunde ist vermerkt, dass er damals in der Schwalbacher Str. 5 wohnte. Ein entsprechender Eintrag in den Wiesbadener Adressbüchern fehlt allerdings. Am 8. Juli 1921 wurde die Ehe geschieden. Im Wiesbadener Adressbuch von 1938 ist als Wohnanschrift von Josef Steinberg die Albrechtstr. 13 verzeichnet ein späteres »Judenhaus«. Dort lebte er in einem kleinen Mansardenzimmer.
Im September 1940 musste Josef Steinberg seine Vermögensverhältnisse offenlegen. Er war völlig verarmt, bezog lediglich eine monatliche Rente von 53 RM. Dieser Betrag reichte kaum zum Überleben. Möglicherweise wurde er von Verwandten in Berlin unterstützt, zumindest bedankte er sich in seinem letzten Brief an seine dortige Nichte Ruth für das Geld, das sie ihm habe zukommen lassen. Diesen Brief hat Josef Steinberg am 9. Juni 1942 verfasst am Vorabend seiner Deportation. Das Schreiben zeigt, dass Josef Steinberg sehr wohl ahnte, was ihm bevorstand. In diesen bangen Stunden kämpfte er um Reste von Zuversicht und dachte mehr an das Wohl seiner Nächsten, als an sich selbst:
»Meine liebe Ruth, Werner[,] Papa Karl u. goldige Kinder[,] Unfaßbar für mich am Sonntag die Mitteilung[,] trotz Atteste u. transportunfähig[,] Abmarsch wegen Jude. Lebt wohl alle Ihr Guten[,] danke Euch für das Geld[,] bitte ich Dich Ruth[,] sobald Frieden ist[,] Dich mit Max Chaskaloff in Verbindung zu setzen[,] Mamas Bruder, Kinder und mit Spatz. Eben wird mir mitgeteilt[,] 2 Firmen hätten ihre Leute freigegeben[,] dann besteht ein Fädchen [Hoffnung,] das[s] ich 14 Tage gerettet bin[,] es ist nur ein Hauch. Morgen früh 5 Uhr denkt an mich[,] auch werde ich noch mal untersucht[,] morgen so heißt es[,] bei letztem Abmarsch mussten Blinde gleichfalls mit. Nochmals Lebewohl[,] denket an mich[.] Sollte ich noch je schreiben dürfen[,] so hört Ihr sofort [von mir]. 1000 Küße Euer unglücklicher Onkel Seppl«
Foto und Brief: AMS-Bestand Gedenken und Erinnern
Die Deportations-Opfer I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Deportations-Opfer I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
Dies war Josef Steinbergs letztes Lebenszeichen. Am 10. Juni 1942 wurde er aus Wiesbaden deportiert. Er gehörte zu den rund 200 jüngeren Männern, die vor Erreichen des Vernichtungslagers Sobibór aus dem Deportationszug heraus- geholt und dem KZ Majdanek zugeführt wurden. Im Totenbuch von Majdanek ist sein Todestag exakt festgehalten: Am 1. Juli 1942 endete, was drei Wochen Lagerhaft und Zwangs- arbeit Josef Steinberg noch zugemutet hatten.
Fella Grünbaum, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Rafael Steinberg, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Judith Friedmann, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Else Weis, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Frieda Levita, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Kirchgasse 1930, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Wohnhäuser Nordost Wiesbaden, 1928 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Innenansicht der Synagoge Friedrichstraße Wiesbaden 1912 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Schulberg 1934 mit Synagoge, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Lebensmittelgeschäft Fröhling, 1928, Bierstadt  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Ingeborg Mendel, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Miriam Steinberg, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Ida Steinberg, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Rheinstraße Wiesbaden, 1927 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Arthur Weil, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Erich und Elli Frankl, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Adelheid Löwensberg, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Familie Schwarz, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Lastenmotorrad 1940 in Igstadt I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Hotel Grüner Wald, Marktstraße Wiesbaden, 1933 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden An der Drehbank, Wiesbaden, 1938 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Flugplatz Erbenheim 1930er Jahre I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Erntedankfest 1937 in Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Wilhelmstraße, Wiesbaden, 1935 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Auf denm Flugfeld Erbenheim 1930er Jahre I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Bau Fort Biehler Kastel 1932  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Albrecht-Dürer-Schule 1936, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Umzug der Sportvereine 1932 in Schierstein I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Alltag  und  nach 1933 vor 1933 Kurautobus vor dem Kurhaus Wiesbaden 1928  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Entfernung des schwaz-rot-goldenen Adlers am Postgebäude Wiesbaden 1933  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Das neue Rathaus 1933, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Heuernte im Klarenthal 1938 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Frieda Weil, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Werbung 1930 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
[ ] »Rassenschande« sagte der Biologielehrer, und: »kostbares arisches Blut«. […] Am Kartenständer dieselbe Rollkarte wie immer in den letzten Wochen. Die Nürnberger Gesetze steht dort in blutroter Fraktur, darunter Deutschblütiger, Mischling 1. Grades, Mischling zweiten Grades und Jude. Hatü folgt gedankenverloren den Linien, mit denen die Kreise sich verbinden und neue Kreise hervorbringen, sie kennt das schon von den Erbsen und Pater Mendel. Großeltern, Eltern, Kinder. Weiße Kreise für Arier und schwarze Kreise für Juden, und halbweise Kreise oder viertelschwarze. Ehe gestattet steht daneben und Ehe verboten und Kinder werden Juden. […] »Des Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehe wurde da einstimmig angenommen. Alle Ehen sind seither verboten, die die Reinerhaltung des deutschen Blutes gefährden, was nicht nur die Juden meint, sondern auch die Zigeuner, Neger und ihre Bastarde.«
aus: »Herzfaden« - Roman der Augsburger Puppenkiste von Thomas Hettche, Kiepenheuer & Witsch, September 2020, Seiten 26,27
Die Deportations-Opfer I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
NS-Rassenkunde, Schulungslager für Schulhelferinnen, 1943; LEMO (Lebendiges Museum Online).
Selbstmord I Die Deportations-Opfer I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelasse Wiesbaden Selbstmord IDie Deportations-Opfer I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
Belastbare Angaben dazu, wie viele Jüdinnen und Juden in Wiesbaden es insgesamt vorzogen, die ihnen drohende Deportation nicht zu erleben und zu erleiden, liegen nicht vor. Im Prozess gegen den ehemaligen deutschen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann vor dem Jerusalemer Bezirksgericht im Jahr 1961 antwortete die Zeugin Hildegard Herschel auf die Frage, ob es eine Möglichkeit gegeben habe, sich in Nazi-Deutschland der Deportation zu entziehen, knapp mit »Nur durch Selbstmord.« Eine legale Flucht ins Exil war spätestens mit Ausreiseverbot für Juden und Jüdinnen vom 23. Oktober 1941 ein Ding der Unmöglichkeit. Der Versuch, eine Flucht über verbotene Wege anzutreten oder in Verstecken zu überleben, war hochriskant. Insofern erscheint es plausibel, dass Menschen, die ahnten, was sie nach einer Deportation erwartete, ihren Freitod planten und ihn auch vollzogen. Aus Berlin liegt dazu eine aufschlussreiche Angabe vor: Zwischen 1942 und 1943 wurde jeder vierte Todesfall unter den verbliebenen Jüdinnen und Juden als ein Akt der Selbsttötung gewertet. Sich in Spekulationen darüber zu verlieren, wie viele jüdische Menschen diesen Schritt andernorts getan haben, ist müßig – Dunkelziffern bleiben Dunkelziffern, ob hoch oder niedrig. In Wiesbaden sind zwei Suizide im Vorfeld der Deportation vom 10. Juni klar belegt – die Selbsttötungen von Rudolf Schreiber und seiner Tochter Jenny. Beide standen nicht auf der Deportationsliste, hatten aber angenommen, dort aufgeführt zu sein. Unfassbare Schrecken vor Augen wählten sie am 7. Juni 1942 den Freitod. Weitere 40 jüdische Menschen trafen in Wiesbaden im August 1942 nachweislich die gleiche Entscheidung und schieden aus dem Leben, bevor es dem Massenmord zugeführt werden konnte. 30 Suizide verteilten sich dabei auf wenige Tage: 25. August 1942 5 »Fälle« 26. August 1942 6 »Fälle« 27. August 1942 2 »Fälle« 28. August 1942 6 »Fälle« 29.August 1942 11 »Fälle« Der 29. August 1942 war der Tag, an dem sich die zur Deportation vorgesehenen Jüdinnen und Juden im Synagogengebäude in der Friedrichstraße einzufinden hatten. . Nach einer quälenden Wartezeit von drei Tagen wurden sie von dort unter Polizeibewachung zum Schlachthof am Hauptbahnhof geführt. Dort begann die letzte Etappe des Transports in die Vernichtung

Freitod

Dora Hirschkind, ihre Schwester Lilly und deren Ehemann Theobald gehörten Anfang der 1930er Jahre als Teilhaber und Teilhaberinnen an einer Nähseidenfabrik in Ansbach zum kleinen Kreis der dortigen, wohlhabenden Juden.
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Die Hirschkinds

Mitte 1934 zogen zunächst Lilly und Theobald Hirschkind nach Wiesbaden um, 1939 folgte ihnen die verwitwete Dora Hirschfeld. In Wiesbaden suchten all drei einen Ort relativer Sicherheit. Von hier aus wollten sie ins Ausland fliehen. Beides war ihnen nicht beschieden. Dora Hirschfeld wurde am 10. Juni 1942 deportiert. Lilly und Theobald Hirschkind verfrachtete man am 1. September 1942 in den Transport nach Theresienstadt.
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AMS-Erinnerungsblatt an Josef Steinberg.

AMS-Erinnerungsblatt an Theobald, Lilly und Dora Hirschkind.

Die Deportations-Liste I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Deportations-Liste I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Deportations-Liste I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Deportations-Liste I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Deportations-Liste I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Deportations-Liste I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Marie Strauss, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Das Opelbad Wiesbaden am 19. August 1936 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Der vollständige Text
Auf denm Flugfeld Erbenheim 1930er Jahre I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
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Die Listen, die Namen, die Opfer - die Menschen

Die Deportations-Opfer I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
Auf der im Sommer 1943 entstandenen Aufnahme sieht man Zäune, Werkstätten, Unterkünfte und Teile eines Appellplatzes nichts Dramatisches. Was auf den ersten Blick fast wie eine Puppenstuben-Idylle wirkt, ist nicht die bauliche Hülle des eigentlichen Vernich- tungsbetriebes, sondern das Äußere anderer Lagerteile. Das Lager Sobibór wurde ab Anfang 1942 im östlichen Polen auf einem Gelände an einem bereits vorhandenen Gleisabzweig zwischen Chelm und Wlodawa errichtet. Im Mai 1942 begann nach Installation der Gaskammern das Morden.

Menschen sind keine

Nummern und Zahlen.

Zur Deportation vom 10. Juni 1942 gibt es viel zu sagen. Die richtigen Worte dafür zu finden, gelingt nie ganz. Am naheliegendsten wäre es, alle Fakten des Verbrechens vollständig aufzulisten. Doch endlose Zahlenkolonnen überfordern. Eine »falsche« Versachlichung des Schreckens macht blind und taub. Der Versuch, hunderte von Namen wachzurufen, führt zu einem Gleichklang, in dem jede Individualität verhallt. Wir brin- gen hier gleichwohl die uns be- kannten Namen, Altersangaben und Anschriften der Wiesba- dener Deportationsopfer kom- primiert zur Darstellung versuchen in dieser Hinsicht sogar die Annäherung an eine weitgehende Vollständigkeit.
Name
43 49 44 58 56 52 54 52 18 58 64 54 60 59 19 61 39 30 2 31 15 51
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Fella Grünbaum auf ihrem Balkon in der Goebenstraße, 1930er Jahre AMS, Erinnerungsblatt Bernhard und Fella Grünbaum Deportiert 10. Juni 1942  Rafael Steinberg, Porträtfoto - deportiert 10. Juni 1942 AMS, Erinnerungsblatt an Rafael und Ida Steinberg sowie ihre Töchter Gitta, Mirjam   Judith, Tochter von Moritz Friedmann, im Alter von 2 Jahren AMS, Erinnerungsblatt an die dritte Generation der Familie Friedmann Deportiert 10. Juni 1942      Else Weis aus Nordenstadt, nicht in der Gestapo-Liste erfasst. Fotosammlung Klaus Flick, Wiesbaden Deportiert 10. Juni 1942     Deportiert am 10. Juni 1942 Frieda Levita, Jahre früher: Frieda (links) mit Schwester Martha und Nichte Ursula  AMS, Erinnerungsblatt an Ludwig, Frieda und Franziska Levita aus Wiesbaden-Sonnenberg     Kirchgasse, von der Rheinstraße aus gesehen, ca. 1930 Stadtarchiv Wiesbaden  Wohnhäuser der Genossenschaft »Gemeinnützige Siedlervereinigung Eigene Scholle zu Wiesbaden« im Bezirk Nordost. Aufnahme ca. 1928 Stadtarchiv Wiesbaden  Innenansicht der Synagoge in der Friedrichstraße, Aufnahme 1912 Foto: August Müller, Wiesbaden-Stadtarchiv Wiesbaden   Kurautobus vor dem Kurhaus, Aufnahme April 1928 In Wiesbaden wurde das erste Reisebusunternehmen Deutschlands gegründet.  1913 nahmen die Kurautobusse ihren Betrieb auf. Stadtarchiv Wiesbaden,    Aula der heutigen »Albrecht-Dürer-Schule«, Lahnstraße 34, Schulfeier am 17. August 1936  AMS, Bestand Geschichte und Erinnerung   Schulberg, links die Synagoge, ca. 1934 AMS, Bestand Geschichte und Erinnerung   Lebensmittelgeschäft »Carl Fröhling« in Bierstadt, heute Post/Ecke Kirchbornstraße, 1928 Stadtarchiv Wiesbaden    Ingeborg Mendel, 1941 - deportiert am 10. Juni 1942 AMS, Erinnerungsblatt an Jenny Mendel geb. Weis und Ingeborg Mendel   Mirjam Steinberg - deportiert am 10. Juni 1942 AMS, Erinnerungsblatt an Rafael und Ida Steinberg  sowie ihre Töchter Gitta und Mirjam    Ida Steinberg - deportiert am 10. Juni 1942 AMS, Erinnerungsblatt an Rafael und Ida Steinberg  sowie ihre Töchter Gitta und Mirjam    Marie Strauss, geb. Eisinger - deportiert am 10. Juni 1942  AMS, Erinnerungsblatt an Max Strauss und Marie Strauss geb. Eisinger    Entfernung des schwarz-rot-goldenen Adlers vom Postgebäude am 26. März 1933 Stadtarchiv Wiesbaden   Die Rheinstraße, im Hintergrund die Ringkirche, Aufnahme um 1927 Fotograf Sossenheimer-Stadtarchiv Wiesbaden, Glasplatten-Sammlung    Arhur Weil war bis 1938 Kammerjäger in Wiesbaden und lebte zuletzt mit seiner Frau in der Faulbrunnenstraße 9.  Er wurde am November/Dezember 1938 verhaftet und starb im KZ Oranienburg am 14. März 1942.  Seine katholisch getaufte Ehefrau Louise blieb bis zu seinem mit ihm verheiratet und überlebte die Nazi-Herrschaft. AMS, Erinnerungsblatt an Arthur Weil   Dr. Erich Frankl und Elli Frankl, geb. Schachtel. Das Paar auf eine Aufnahme aus dem Jahr 1917. Er zeigt sich gewinnend in österreichischer Uniform mit Kriegsdienstauszeichnungen AMS, Erinnerungsblatt an Erich und Elli Frankl Deportiert am 10. Juni 1942    Adelheid Löwensberg mit Kindern von Hausbewohnern, Aufnahme ca. 1908 Quelle: AMS; Erinnerungsblatt an Adelheid Löwensberg und ihre Familie Deportiert am 10. Juni 1942     Manfred, Rudolf, Otto und Helene Schwarz, der letzte Besuch August 1939.  Helene und Rudolf werden am 10.6.1942 deportiert, die Söhne können rechtzeitig emigrieren. AMS, Erinnerungsblatt an Helene, Rudolf, Otto und Manfred Schwarz   Lastenmotorrad der Familie Burger vor dem Finkenhof in Igstadt - Aufnahme um 1940 Stadtarchiv Wiesbaden        Werbung 1930 Stadtarchiv Wiesbaden,          Großflächige Werbung für das »Hotel Grüner Wald«, Marktstraße Aufnahme nach dem 31. März 1933, dem Tag der NS-Umbenennung des »Schloßplatzes« in »Adolf-Hitler-Platz« Fotosammlung Christina Baum   Gehilfe an der Drehbank, Aufnahme ca. 1938 Foto Willi Rudolph-Stadtarchiv Wiesbaden,          Flugplatz Erbenheim, Luftaufnahme ca. 1930 Der Zivilflugplatz für Post- und Linienflüge nahm seinen Betrieb am 8. August 1929 auf – nach Abbruch der meisten, aber nicht aller Pferde-Rennbahn-Tribünen. Stadtarchiv Wiesbaden       Das »Opelbad« am Südhang des Nerobergs im Hochsommer. Aufnahme 19. August 1936 Stadtarchiv Wiesbaden         Festzug zum Erntedankfest, im Hintergrund das Neue Rathaus - Aufnahme 1937 AMS, Bestand Geschichte und Erinnerung       Blick in die Wilhelmstraße in Richtung »Hotel Vier Jahreszeiten« und »Hotel Nassauer Hof« - Aufnahme ca. 1935 Stadtarchiv Wiesbaden       Auf dem Flugfeld in Erbenheim - Aufnahme 1930er Jahre Stadtarchiv Wiesbaden        Angetreten zur Eigenarbeit beim Aufbau der Siedlung am »Fort Biehler« zwischen Erbenheim und  Kastel, Aufnahme 1932 Die Stadt stellte lediglich Grundstücke, Baumaterialien, Wassereinschlüsse und eine wenige bezahlte Fachkräfte. Arbeitslose Arbeiter und Angestellte, die mit ihren Familien in bis dahin in äußerst beengten Verhältnissen wohnen mussten oder von Obdachlosigkeit bedroht waren, eröffnete dieses Projekt die Chance, nur dank eigener Musterkraft zu einem Haus mit Garten zu kommen. Quelle: Stadtarchiv Wiesbaden,        Aula der heutigen »Albrecht-Dürer-Schule«, Lahnstraße 34, Schulfeier am 17. August 1936  AMS, Bestand Geschichte und Erinnerung   Umzug von Schiersteiner Sportvereinen 1932 Der über dem Lattenzaun angebrachte Turnergruß »Gut Heil« wünscht wie »Berg Heil« oder »Ski Heil« Gesundheit und Gelingen. Diese Heils-Botschaften sind viel, viel älter als das »Heil Hitler« der NS-Zeit und nicht für das nachgeschobene Plagiat verantwortlich zu machen. Foto: W. Schuster -Stadtarchiv Wiesbaden
Die Listen. Die Namen. Die Menschen.
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Josef Steinberg nimmt Abschied

Die Deportations-Opfer I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
die »richtige« Mischung von Tabaksorten und Blattarten aus den »richtigen« Jahrgängen, Anbaugebieten und Herkunfts- ländern enthalten ist).Am 17. Juli 1915 zog man ihn zur 7. Bayerischen Feldartillerie ein. Sein soldatischer Einsatz endete mit einer Kriegsverletzung. Wann und warum es Josef Steinberg nach Wiesbaden verschlagen hat, ist nicht bekannt. Am 16. November 1920 heiratete er in unserer Stadt die am 8. Mai 1877 in Lodz in Polen geborene Jüdin Lydia Bielschowski In der Heiratsurkunde ist vermerkt, dass er da- mals in der Schwalbacher Str. 5 wohnte. Ein entsprechender Eintrag in den Wiesbadener Adressbüchern fehlt allerdings. Am 8. Juli 1921 wurde die Ehe geschieden. Im Wiesbadener Adressbuch von 1938 ist als Wohnanschrift von Josef Steinberg die Albrechtstr. 13 verzeichnet ein späteres »Judenhaus«. Dort lebte er in einem kleinen Mansardenzimmer. Im September 1940 musste Josef Steinberg seine Vermögensverhältnisse offenlegen. Er war völlig verarmt, bezog lediglich eine monatliche Rente von 53 RM. Dieser Betrag reichte kaum zum Überleben. Möglicherweise wurde er von Verwandten in Berlin unterstützt, zumindest bedank- te er sich in seinem letzten Brief an seine dortige Nichte Ruth für das Geld, das sie ihm habe zukommen lassen. Diesen Brief hat Josef Steinberg am 9. Juni 1942 verfasst am Vorabend seiner Deportation. Das Schreiben zeigt, dass Josef Steinberg sehr wohl ahnte, was ihm bevorstand. In diesen bangen Stunden kämpfte er um Reste von Zuversicht und dachte mehr an das Wohl seiner Nächsten, als an sich selbst:
Die Deportations-Opfer I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Deportations-Opfer I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden
Dies war Josef Steinbergs letztes Lebenszeichen. Am 10. Juni 1942 wurde er aus Wiesbaden deportiert. Er gehörte zu den rund 200 jüngeren Männern, die vor Erreichen des Vernichtungslagers Sobibór aus dem Deportationszug herausgeholt und dem KZ Majdanek zugeführt wurden. Im Totenbuch von Majdanek ist sein Todestag exakt festgehalten: Am 1. Juli 1942 endete, was drei Wochen Lagerhaft und Zwangs-arbeit Josef Steinberg noch zugemutet hatten.
Foto und Brief: AMS-Bestand Gedenken und Erinnern
Warum? »Niemand ist vergessen« bleibt für uns eine unverzichtbare Verpflichtung. Zudem erfüllen diese Angaben den Zweck, die quantitative Dimension der NS-Aktion ins Bewusst- sein zu heben. Ein Geschehen, das solchen Umfang hatte, ließ sich nicht übersehen, es sei denn man wollte davon nichts wissen. Die Gestapo-Liste der Deportation von 10. Juni 1942 führt 370 Personen namentlich auf darunter zwei Säuglinge von unter einem Jahr und einen Herrn von 73 Jahren. 21 Kinder waren jünger als zehn Jahre. Da Nordenstadt damals noch kein Ortsteil Wiesba- dens war, sind die von dort deportierten Jüdinnen und Juden in der Gestapo-Liste nicht erfasst. Weitere Dokumentationslücken und -fehler ent- sprechen dem Bürokratie-Üblichen. Letztlich können solche Übersichten die mensch- liche Dimension zugefügten Leids nie fassen, lenken vom Eigentlichen ab Personen sind glücksfähige, aber zerbrechliche Lebewesen, kein Stückgut, kein Zahlenmaterial. In Menschen und ihr Schicksal kann man sich einfühlen, in Mengenangaben nicht. Auch massenhaft zugefügte Zerstörung von Leib und Leben ist für jedes Opfer stets etwas ganz Intimes und oft schrecklich Einsames. Was die etwa 380 Menschen erwartete, die am 10. Juni 1942 in Wiesbaden in einen Zug gepfercht wurden, war in jedem Fall ein Martyrium. Der Transport führte zunächst nach Frankfurt, dem Sammelpunkt für weitere Opfer dieser Großaktion - Jüdinnen und Juden aus der Messe-Stadt und zahlreichen benachbarten Landkreisen. Am Morgen des 11. Juni 1942 verließ der neu zusammengestellt Zug-»Da 18« mit insgesamt etwa 1.120 bis 1.190 Deportierten die Main-Metropole. Das Fahrtziel war angeblich Izbica, tatsächlich aber Lublin im östlichen Polen. Es gibt Belege dafür, dass die Reise für rund 200 »arbeitsfähige«, jüngere Männer im KZ Majdanek endete. Fast alle kamen dort schon nach wenigen Wochen zu Tode. Alle anderen verbrachte man unmittelbar in das Vernichtungslager Sobibór und setzte sie dem Erstickungstod durch Motorabgase aus. Wie lange diese Tortur dauerte, ist unter »Zug - D455/Das Vernichtungslager Sobibór« nachzulesen.
Alltag
und nach 1933
vor 1933
[ ] »Rassenschande« sagte der Biologie-lehrer, und: »kostbares arisches Blut«. […] Am Kartenständer dieselbe Rollkarte wie immer in den letzten Wochen. Die Nürnberger Gesetze steht dort in blutroter Fraktur, darunter Deutschblütiger, Mischling 1. Grades, Mischling zweiten Grades und Jude.
Hatü folgt gedankenverloren den Linien, mit denen die Kreise sich verbinden und neue Kreise hervorbringen, sie kennt das schon von den Erbsen und Pater Mendel. Großeltern, Eltern, Kinder. Weiße Kreise für Arier und schwarze Kreise für Juden, und halbweise Kreise oder viertelschwarze. Ehe gestattet steht daneben und Ehe verboten und Kinder werden Juden.
[…] »Des Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehe wurde da einstimmig angenommen. Alle Ehen sind seither verboten, die die Reinerhaltung des deutschen Blutes gefährden, was nicht nur die Juden meint, sondern auch die Zigeuner, Neger und ihre Bastarde.« aus: »Herzfaden« - Roman der AugsburgerPuppenkiste von Thomas Hettche, Kiepenheuer & Witsch, September 2020, 26,27
NS-Rassenkunde, Schulungslager für Schulhelferinnen, 1943; LEMO (Lebendiges Museum Online).
Belastbare Angaben dazu, wie viele Jüdinnen und Juden in Wiesbaden es insgesamt vorzogen, die ihnen drohende De- portation nicht zu erleben und zu erleiden, liegen nicht vor. Im Prozess gegen den ehemaligen deutschen SS- Obersturmbannführer Adolf Eichmann vor dem Jerusalemer Bezirksgericht im Jahr 1961 antwortete die Zeugin Hildegard Herschel auf die Frage, ob es eine Möglichkeit gegeben habe, sich in Nazi- Deutschland der Deportation zu entziehen, knapp mit »Nur durch Selbstmord.« Eine legale Flucht ins Exil war spätestens mit Ausreiseverbot für Juden und Jüdinnen vom 23. Oktober 1941 ein Ding der Unmöglichkeit. Der Versuch, eine Flucht über verbotene Wege anzutreten oder in Verstecken zu überleben, war hochriskant. Insofern erscheint es plausibel, dass Menschen, die ahnten, was sie nach einer Deportation erwartete, ihren Freitod planten und ihn auch vollzogen. Aus Berlin liegt dazu eine aufschlussreiche Angabe vor: Zwischen 1942 und 1943 wurde jeder vierte Todesfall unter den verbliebenen Jüdinnen und Juden als ein Akt der Selbsttötung gewertet. Sich in Spekulationen darüber zu verlieren, wie viele jüdische Menschen diesen Schritt andernorts getan haben, ist müßig Dunkelziffern bleiben Dunkelziffern, ob hoch oder niedrig. In Wiesbaden sind zwei Suizide im Vorfeld der Deportation vom 10. Juni klar belegt die Selbsttötungen von Rudolf Schreiber und seiner Tochter Jenny. Beide standen nicht auf der Deportationsliste, hatten aber angenommen, dort aufgeführt zu sein. Unfassbare Schrecken vor Augen wählten sie am 7. Juni 1942 den Freitod. Weitere 40 jüdische Menschen trafen in Wiesbaden im August 1942 nachweislich die gleiche Entscheidung und schieden aus dem Leben, bevor es dem Massenmord zugeführt werden konnte. 30 Suizide verteilten sich dabei auf wenige Tage: 25. August 1942 5 »Fälle« 26. August 1942 6 »Fälle« 27. August 1942 2 »Fälle« 28. August 1942 6 »Fälle« 29.August 1942 11 »Fälle« Der 29. August 1942 war der Tag, an dem sich die zur Deportation vorgesehenen Jüdinnen und Juden im Synagogengebäude in der Friedrichstraße einzufinden hatten. Nach einer quälenden Wartezeit von drei Tagen wurden sie von dort unter Polizeibewachung zum Schlachthof am Hauptbahnhof geführt. Dort begann die letzte Etappe des Transports in die Vernichtung.

Freitod

Dora Hirschkind, ihre Schwester Lilly und deren Ehemann Theobald gehörten Anfang der 1930er Jahre als Teilhaber und Teilhaberinnen an einer Nähseidenfabrik in Ansbach zum kleinen Kreis der dortigen, wohlhabenden Juden.

Die Hirschkinds

Mitte 1934 zogen zunächst Lilly und Theobald Hirschkind nach Wiesbaden um, 1939 folgte ihnen die verwitwete Dora Hirschfeld. In Wiesbaden suchten all drei einen Ort relativer Sicherheit. Von hier aus wollten sie ins Ausland fliehen. Beides war ihnen nicht beschieden. Dora Hirschfeld wurde am 10. Juni 1942 deportiert. Lilly und Theobald Hirschkind verfrachtete man am 1. September 1942 in den Transport nach Theresienstadt.
Der vollständige Text

Erinnerungsblatt an

Theobald, Lilly

und Dora Hirschkind.

AMS-Erinnerungsblatt

an Josef Steinberg.

Die Deportations-Liste I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Deportations-Liste I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Deportations-Liste I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Deportations-Liste I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Deportations-Liste I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Deportations-Liste I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Heinrich Marx, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Else Weis, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Frieda Levita, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Lebensmittelgeschäft Fröhling, 1928, Bierstadt  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Ingeborg Mendel, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Albrecht-Dürer-Schule 1936, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Kirchgasse 1930, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Arthur Weil, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Bau Fort Biehler Kastel 1932  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Rafael Steinberg, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Wohnhäuser Nordost Wiesbaden, 1928 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Miriam Steinberg, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Ida Steinberg, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Familie Schwarz, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Schulberg 1934 mit Synagoge, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Die Rheinstraße Wiesbaden, 1927 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Adelheid Löwensberg, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Hotel Grüner Wald, Marktstraße Wiesbaden, 1933 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden An der Drehbank, Wiesbaden, 1938 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Wilhelmstraße, Wiesbaden, 1935 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Fella Grünbaum, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Erntedankfest 1937 in Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Schulberg 1934 mit Synagoge, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Flugplatz Erbenheim 1930er Jahre I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Umzug der Sportvereine 1932 in Schierstein I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Das Opelbad Wiesbaden am 19. August 1936 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Entfernung des schwaz-rot-goldenen Adlers am Postgebäude Wiesbaden 1933  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Frieda Weil, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Werbung 1930 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Das neue Rathaus 1933, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Heuernte im Klarenthal 1938 I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Lastenmotorrad 1940 in Igstadt I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Kurautobus vor dem Kurhaus Wiesbaden 1928  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Marie Strauss, Wiesbaden I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden Judith Friedmann, Wiesbaden  I 10. Juni 1942 I Juden-Deportation Wiesbaden I Aktives Museum Spiegelgasse Wiesbaden