Die Listen, die Namen, die Opfer - die Menschen
Die Listen.
Die Namen.
Die Menschen.
Auf
der
im
Sommer
1943
entstandenen
Aufnahme
sieht
man
Zäune,
Werkstätten,
Unterkünfte
und
Teile
eines
Appellplatzes
–
nichts Dramatisches.
Was
auf
den
ersten
Blick
fast
wie
eine
Puppenstuben-Idylle
wirkt,
ist
nicht
die
bauliche
Hülle
des
eigentlichen
Vernich-
tungsbetriebes, sondern das Äußere anderer Lagerteile.
Das
Lager
Sobibór
wurde
ab
Anfang
1942
im
östlichen
Polen
auf
einem
Gelände
an
einem
bereits
vorhandenen
Gleisabzweig
zwischen Chelm und Wlodawa errichtet.
Im Mai 1942
begann nach Installation der Gaskammern das Morden.
Auskunft darüber, womit sich die Opfer nach ihrer Ankunft im Lager konfrontiert sahen, geben Auszüge aus einem Beitrag der Aufsatzsammlung
»Im Schatten von Auschwitz: Spurensuche in Polen, Belarus und der Ukraine«.
»Nachdem
ein
Zug
an
der
Rampe
im
Lagerinneren
angekommen
war,
wurden
die
Deportierten
aus
den
Waggons
ins
Lager
II
getrieben.
Dort
mussten
sie
sich
im
Freien
entkleiden
und
ihre
Wertsachen
an
einer
„Kasse“
abgeben,
die
sich
im
Erdgeschoss
des
ehemaligen
Forsthauses,
der
Lagerver-waltung, befand.
Sämtliches
Gepäck
der
Opfer
kam
in
Magazine
gegenüber
des
Forsthauses,
wurde
dort
[…]
sortiert
und
nach
Anweis-ungen
der
SS
zum
Abtransport
für
die
weitere
Verwendung
vorbereitet.
Schriftstücke
und
persönliche Dokumente der Opfer wurden verbrannt.
[…]
Die
übrigen
Deportierten
wurden,
nachdem
sie
sich
im
Lager
II
entkleidet
hatten,
von
dort
aus
von
Trawniki-Männern
und
unter
Aufsicht,
zum
Teil
auch
Beteiligung
einzelner
SS-Männer
durch
den
[…]
„Schlauch“
zu den Gaskammern getrieben.
In
der
Regel
geschah
dies
nach
Geschlechtern
getrennt,
Kinder
gingen
mit
den Frauen.
Alten
Menschen,
Kranken,
Gebrechlichen
und
Invaliden,
die
nicht
selbständig
laufen
konnten,
sowie
Kindern
ohne
Begleitung
wurde
bei
ihrer
Ankunft
mitgeteilt,
dass
sie
in
ein
„Lazarett“
kämen.
Mit
Fuhrwerken
brachte
man
sie
dann
entweder
zu
den
Massengräbern
in
Lager
III
oder
zu
einer Grube östlich davon im Wald und erschoss sie.
Menschen sind keine Nummern und Zahlen.
Zur Deportation vom 10. Juni 1942 gibt es viel zu sagen.
Die richtigen Worte dafür zu finden, gelingt nie ganz.
Am naheliegendsten wäre es, alle Fakten des Verbrechens vollständig aufzulisten.
Doch endlose Zahlenkolonnen überfordern.
Eine »falsche« Versachlichung des Schreckens macht blind und taub.
Der
Versuch,
hunderte
von
Namen
wachzurufen,
führt
zu
einem
Gleichklang,
in
dem
jede
Individualität
verhallt.
Wir
bringen
hier
gleichwohl
die
uns
bekannten
Namen,
Altersangaben
und
Anschriften
der
Wiesbadener
Deportations-opfer
komprimiert
zur
Darstellung
–
versuchen
in
dieser Hinsicht sogar die Annäherung an eine weitgehende Vollständigkeit.
Warum?
»Niemand ist vergessen«
bleibt für uns eine unverzichtbare Verpflichtung.
Zudem
erfüllen
diese
Angaben
den
Zweck,
die
quantitative
Dimension
der
NS-Aktion
ins
Bewusstsein
zu
heben.
Ein
Geschehen,
das
solchen
Umfang
hatte,
ließ
sich
nicht
übersehen,
es
sei
denn man wollte davon nichts wissen.
Die
Gestapo-Liste
der
Deportation
von
10.
Juni
1942
führt
370
Personen
namentlich
auf
–
darunter
zwei
Säuglinge
von
unter
einem
Jahr
und
einen
Herrn
von
73
Jahren.
21
Kinder
waren
jünger als zehn Jahre.
Da
Nordenstadt
damals
noch
kein
Ortsteil
Wiesbadens
war,
sind
die
von
dort
deportierten
Jüdinnen
und
Juden
in
der
Gestapo-Liste
nicht
erfasst.
Weitere
Dokumentationslücken
und
-
fehler entsprechen dem Bürokratie-Üblichen.
Letztlich
können
solche
Übersichten
die
menschliche
Dimension
zugefügten
Leids
nie
fassen,
lenken
vom
Eigentlichen
ab
–
Personen
sind
glücksfähige,
aber
zerbrechliche
Lebewesen,
kein
Stückgut, kein Zahlenmaterial.
In Menschen und ihr Schicksal kann man sich einfühlen, in Mengenangaben nicht.
Auch massenhaft zugefügte Zerstörung von Leib und Leben
ist für jedes Opfer stets etwas ganz Intimes und oft schrecklich Einsames.
Was
die
etwa
380
Menschen
erwartete,
die
am
10.
Juni
1942
in
Wiesbaden
in
einen
Zug
gepfercht
wurden,
war
in
jedem
Fall
ein
Martyrium.
Der
Transport
führte
zunächst
nach
Frankfurt,
dem
Sammelpunkt
für
weitere
Opfer
dieser
Großaktion
-
Jüdinnen
und
Juden
aus
der
Messe-Stadt
und
zahlreichen benachbarten Landkreisen.
Am
Morgen
des
11.
Juni
1942
verließ
der
neu
zusammengestellt
Zug-»Da
18«
mit
insgesamt
etwa
1.120
bis
1.190
Deportierten
die
Main-Metropole.
Das
Fahrtziel
war
angeblich
Izbica,
tatsächlich
aber Lublin im östlichen Polen.
Es gibt Belege dafür, dass die Reise für rund 200 »arbeitsfähige«, jüngere Männer im KZ Majdanek
endete.
Fast
alle
kamen
dort
schon
nach
wenigen
Wochen
zu
Tode.
Alle
anderen
verbrachte
man
unmittelbar
in
das
Vernichtungslager
Sobibór
und
setzte
sie
dem
Erstickungstod
durch
Motorabgase
aus.
Wie
lange
diese
Tortur
dauerte,
ist
unter
»Zug
-D455/Das
Vernichtungslager
Sobibór« nachzulesen.
Letzter Wohnort
Name
43
49
44
58
56
52
54
52
18
58
64
54
60
59
19
61
39
30
2
31
15
51
Vorname
Letzter Wohnort
Name
Josef Steinberg nimmt Abschied
Josef Steinberg wurde am 2. April 1893 in Berlin geboren.
Er
ergriff
den
Beruf,
den
schon
sein
Vater
Elias
ausgeübt
hatte
–
Tabakmeister
(dessen
Aufgabe
es
ist,
sicherzustellen,
dass
in
Tabakwaren
jeweils
die
»richtige«
Mischung
von
Tabaksorten
und
Blattarten
aus
den
»richtigen«
Jahrgängen,
Anbaugebieten
und
Herkunftsländern enthalten ist).
Am 17. Juli 1915 zog man ihn zur 7. Bayerischen Feldartillerie ein. Sein soldatischer Einsatz endete mit einer Kriegsverletzung.
Wann und warum es Josef Steinberg nach Wiesbaden verschlagen hat, ist nicht bekannt.
Am 16. November 1920 heiratete er in unserer Stadt die am 8. Mai 1877 in Lodz in Polen geborene Jüdin Lydia Bielschowski.
In
der
Heiratsurkunde
ist
vermerkt,
dass
er
damals
in
der
Schwalbacher
Str.
5
wohnte.
Ein
entsprechender
Eintrag
in
den
Wiesbadener
Adressbüchern fehlt allerdings.
Am 8. Juli 1921 wurde die Ehe geschieden.
Im
Wiesbadener
Adressbuch
von
1938
ist
als
Wohnanschrift
von
Josef
Steinberg
die
Albrechtstr.
13
verzeichnet
–
ein
späteres
»Judenhaus«. Dort lebte er in einem kleinen Mansardenzimmer.
Im September 1940 musste Josef Steinberg seine Vermögensverhältnisse offenlegen.
Er
war
völlig
verarmt,
bezog
lediglich
eine
monatliche
Rente
von
53
RM.
Dieser
Betrag
reichte
kaum
zum
Überleben.
Möglicherweise
wurde
er
von
Verwandten
in
Berlin
unterstützt,
zumindest bedankte er sich in seinem letzten Brief an seine dortige Nichte Ruth für das Geld, das sie ihm habe zukommen lassen.
Diesen
Brief
hat
Josef
Steinberg
am
9.
Juni
1942
verfasst
–
am
Vorabend
seiner
Deportation.
Das
Schreiben
zeigt,
dass
Josef
Steinberg
sehr
wohl
ahnte,
was
ihm
bevorstand.
In
diesen
bangen Stunden kämpfte er um Reste von Zuversicht und dachte mehr an das Wohl seiner Nächsten, als an sich selbst:
»Meine liebe Ruth, Werner[,] Papa Karl
u. goldige Kinder[,]
Unfaßbar für mich am Sonntag die Mitteilung[,]
trotz Atteste u. transportunfähig[,]
Abmarsch wegen Jude.
Lebt wohl alle Ihr Guten[,] danke Euch für das Geld[,] bitte ich Dich Ruth[,]
sobald Frieden ist[,] Dich mit Max Chaskaloff in Verbindung zu setzen[,] Mamas
Bruder, Kinder und mit Spatz.
Eben wird mir mitgeteilt[,] 2 Firmen hätten ihre Leute freigegeben[,] dann
besteht ein Fädchen [Hoffnung,] das[s] ich 14 Tage gerettet bin[,] es ist nur ein
Hauch.
Morgen früh 5 Uhr denkt an mich[,] auch werde ich noch mal untersucht[,]
morgen so heißt es[,] bei letztem Abmarsch mussten Blinde gleichfalls mit.
Nochmals Lebewohl[,] denket an mich[.]
Sollte ich noch je schreiben dürfen[,] so hört Ihr sofort [von mir].
1000 Küße
Euer unglücklicher
Onkel Seppl«
Foto und Brief: AMS-Bestand Gedenken und Erinnern
Dies war Josef Steinbergs letztes Lebenszeichen.
Am 10. Juni 1942 wurde er aus Wiesbaden deportiert.
Er
gehörte
zu
den
rund
200
jüngeren
Männern,
die
vor
Erreichen
des
Vernichtungslagers
Sobibór
aus
dem
Deportationszug
heraus-
geholt und dem KZ Majdanek zugeführt wurden.
Im Totenbuch von Majdanek ist sein Todestag exakt festgehalten:
Am
1.
Juli
1942
endete,
was
drei
Wochen
Lagerhaft
und
Zwangs-
arbeit Josef Steinberg noch zugemutet hatten.
[ ]
»Rassenschande« sagte der Biologielehrer, und: »kostbares arisches Blut«.
[…]
Am Kartenständer dieselbe Rollkarte wie immer in den letzten Wochen.
Die Nürnberger Gesetze steht dort in blutroter Fraktur, darunter Deutschblütiger, Mischling 1.
Grades, Mischling zweiten Grades und Jude.
Hatü folgt gedankenverloren den Linien, mit denen die Kreise sich verbinden und neue Kreise
hervorbringen, sie kennt das schon von den Erbsen und Pater Mendel. Großeltern, Eltern, Kinder.
Weiße Kreise für Arier und schwarze Kreise für Juden, und halbweise Kreise oder viertelschwarze.
Ehe gestattet steht daneben und Ehe verboten und Kinder werden Juden.
[…]
»Des Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehe wurde da einstimmig
angenommen. Alle Ehen sind seither verboten, die die Reinerhaltung des deutschen Blutes
gefährden, was nicht nur die Juden meint, sondern auch die Zigeuner, Neger und ihre Bastarde.«
aus: »Herzfaden« - Roman der Augsburger Puppenkiste von Thomas Hettche,
Kiepenheuer & Witsch, September 2020, Seiten 26,27
NS-Rassenkunde,
Schulungslager für Schulhelferinnen, 1943;
LEMO (Lebendiges Museum Online).
Belastbare Angaben dazu, wie viele Jüdinnen und Juden in Wiesbaden es insgesamt vorzogen,
die ihnen drohende Deportation nicht zu erleben und zu erleiden, liegen nicht vor.
Im
Prozess
gegen
den
ehemaligen
deutschen
SS-Obersturmbannführer
Adolf
Eichmann
vor
dem
Jerusalemer
Bezirksgericht
im
Jahr
1961
antwortete
die
Zeugin
Hildegard
Herschel auf die Frage, ob es eine Möglichkeit gegeben habe, sich in Nazi-Deutschland der Deportation zu entziehen, knapp mit
»Nur durch Selbstmord.«
Eine
legale
Flucht
ins
Exil
war
spätestens
mit
Ausreiseverbot
für
Juden
und
Jüdinnen
vom
23.
Oktober
1941
ein
Ding
der
Unmöglichkeit.
Der
Versuch,
eine
Flucht
über
verbotene
Wege
anzutreten
oder
in
Verstecken zu überleben, war hochriskant. Insofern erscheint es plausibel, dass Menschen, die ahnten, was sie nach einer Deportation erwartete, ihren Freitod planten und ihn auch vollzogen.
Aus Berlin liegt dazu eine aufschlussreiche Angabe vor:
Zwischen 1942 und 1943 wurde jeder vierte Todesfall unter den verbliebenen Jüdinnen und Juden als ein Akt der Selbsttötung gewertet.
Sich in Spekulationen darüber zu verlieren, wie viele jüdische Menschen diesen Schritt andernorts getan haben, ist müßig – Dunkelziffern bleiben Dunkelziffern, ob hoch oder niedrig.
In Wiesbaden sind zwei Suizide im Vorfeld der Deportation vom 10. Juni klar belegt – die Selbsttötungen von Rudolf Schreiber und seiner Tochter Jenny.
Beide standen nicht auf der Deportationsliste, hatten aber angenommen, dort aufgeführt zu sein. Unfassbare Schrecken vor Augen wählten sie am 7. Juni 1942 den Freitod.
Weitere
40
jüdische
Menschen
trafen
in
Wiesbaden
im
August
1942
nachweislich
die
gleiche
Entscheidung
und
schieden
aus
dem
Leben,
bevor
es
dem
Massenmord
zugeführt
werden konnte.
30 Suizide verteilten sich dabei auf wenige Tage:
25. August 1942
5 »Fälle«
26. August 1942
6 »Fälle«
27. August 1942
2 »Fälle«
28. August 1942
6 »Fälle«
29.August 1942
11 »Fälle«
Der 29. August 1942 war der Tag, an dem sich die zur Deportation vorgesehenen Jüdinnen und Juden im Synagogengebäude in der Friedrichstraße einzufinden hatten. .
Nach einer quälenden Wartezeit von drei Tagen wurden sie von dort unter Polizeibewachung zum Schlachthof am Hauptbahnhof geführt.
Dort begann die letzte Etappe des Transports in die Vernichtung
Freitod
Dora
Hirschkind,
ihre
Schwester
Lilly
und
deren
Ehemann
Theobald
gehörten
Anfang
der
1930er
Jahre
als
Teilhaber
und
Teilhaberinnen
an
einer
Nähseidenfabrik
in
Ansbach
zum
kleinen
Kreis
der
dortigen,
wohlhabenden Juden.
Die Hirschkinds
Mitte 1934 zogen zunächst Lilly und Theobald Hirschkind nach Wiesbaden um,
1939 folgte ihnen die verwitwete Dora Hirschfeld.
In Wiesbaden suchten all drei einen Ort relativer Sicherheit. Von hier aus wollten sie ins Ausland fliehen.
Beides war ihnen nicht beschieden.
Dora Hirschfeld wurde am 10. Juni 1942 deportiert.
Lilly und Theobald Hirschkind verfrachtete man am 1. September 1942
in den Transport nach Theresienstadt.
AMS-Erinnerungsblatt an Josef Steinberg.
AMS-Erinnerungsblatt an Theobald, Lilly und Dora Hirschkind.