Transport Nr. 5.38
Zug Nr. Da 18
Abfahrt 11.06.1942 von Frankfurt am Main
mit insgesamt 1253 Insassen, davon 371 Wiesbadener.
Ankunft 13.06.1942 am Zielort Lublin/Majdanek
Arbeitsfähige Männer zwischen 15 und 50 Jahren
wurden an der Rampe in Lublin selektiert
und kamen zur Zwangsarbeit in das KZ Majdanek.
Frauen und nicht arbeitsfähige Männer wurden in
das Vernichtungslager Sobibor weiter transportiert.
Aus dem gesamten Transport sind keine Überlebenden bekannt.
Aktuelles Erinnerungsblatt I
Die Deportation am 10. Juni 1942
Das Vernichtungslager Sobibór
Die Großmarkthalle
in Frankfurt am Main
Die
Wiesbadener
Jüdinnen
und
Juden
wurden
am
10.
Juni
1942
zunächst
nach
Frankfurt am Main verfrachtet.
Im
östlichen
Kellerbereich
der
Großmarkt-hallen
führte
man
sie
mit
anderen
Opfern der Massendeportation zusammen.
Die
Großmarkthalle
lag
verkehrstechnisch
günstig
zwischen
Hafenbahn
und
Ost-bahnhof.
Die
zum
Zwecke
der
Deportation
angemieteten
Kellerräume
boten
Platz
für
die
Unterbringung
von
vielen
Menschen
und
waren
leicht
zu
überwachen.
Das
grausame
Geschehen
in
diesen
Räumen
war
eine
Welt
für
sich. Direkt nebenan ging der tägliche Marktbetrieb weiter.
Grundriss der Großmarkthalle FFM mit funktioneller Gliederung;
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Bestand hhstaw_461_30983_001]
Verbrennungsöfen
Foto: Majdanek Concentration Camp 1944
angeboten von:
TIERGRTENSTRASSE 4 ASSOCIATION e.V.
Auf
der
im
Sommer
1943
entstandenen
Aufnahme
sieht
man
Zäune,
Werkstätten,
Unterkünfte
und
Teile
eines
Appellplatzes
–
nichts Dramatisches.
Was
auf
den
ersten
Blick
fast
wie
eine
Puppenstuben-Idylle
wirkt,
ist
nicht
die
bauliche
Hülle
des
eigentlichen
Vernich-
tungsbetriebes, sondern das Äußere anderer Lagerteile.
Das
Lager
Sobibór
wurde
ab
Anfang
1942
im
östlichen
Polen
auf
einem
Gelände
an
einem
bereits
vorhandenen
Gleisabzweig
zwischen Chelm und Wlodawa errichtet.
Im Mai 1942
begann nach Installation der Gaskammern das Morden.
Auskunft darüber, womit sich die Opfer nach ihrer Ankunft im Lager konfrontiert sahen, geben Auszüge aus einem Beitrag der Aufsatzsammlung
»Im Schatten von Auschwitz: Spurensuche in Polen, Belarus und der Ukraine«.
»Nachdem
ein
Zug
an
der
Rampe
im
Lagerinneren
angekommen
war,
wurden
die
Deportierten
aus
den
Waggons
ins
Lager
II
getrieben.
Dort
mussten
sie
sich
im
Freien
entkleiden
und
ihre
Wertsachen
an
einer
„Kasse“
abgeben,
die
sich
im
Erdgeschoss
des
ehemaligen
Forsthauses,
der
Lagerver-waltung, befand.
Sämtliches
Gepäck
der
Opfer
kam
in
Magazine
gegenüber
des
Forsthauses,
wurde
dort
[…]
sortiert
und
nach
Anweis-ungen
der
SS
zum
Abtransport
für
die
weitere
Verwendung
vorbereitet.
Schriftstücke
und
persönliche Dokumente der Opfer wurden verbrannt.
[…]
Die
übrigen
Deportierten
wurden,
nachdem
sie
sich
im
Lager
II
entkleidet
hatten,
von
dort
aus
von
Trawniki-Männern
und
unter
Aufsicht,
zum
Teil
auch
Beteiligung
einzelner
SS-Männer
durch
den
[…]
„Schlauch“
zu den Gaskammern getrieben.
In
der
Regel
geschah
dies
nach
Geschlechtern
getrennt,
Kinder
gingen
mit
den Frauen.
Alten
Menschen,
Kranken,
Gebrechlichen
und
Invaliden,
die
nicht
selbständig
laufen
konnten,
sowie
Kindern
ohne
Begleitung
wurde
bei
ihrer
Ankunft
mitgeteilt,
dass
sie
in
ein
„Lazarett“
kämen.
Mit
Fuhrwerken
brachte
man
sie
dann
entweder
zu
den
Massengräbern
in
Lager
III
oder
zu
einer Grube östlich davon im Wald und erschoss sie.
[…]
Der
Zutritt
zu
den
Gaskammern
erfolgte
nicht
ebenerdig,
sondern
über
eine
Art
Veranda,
dies
sich
entlang
des
Gebäudes
erstreckte.
Auf
dessen
Rückseite
befanden
sich
ebenfalls
Türen,
durch
die
die
Leichen
aus
den
Kammern
gezogen
wurden.
Bis
zu
200
Menschen
wurden
bei
einem
Tötungsvorgang in die drei Kammern gesperrt.
In
einem
Schuppen
neben
dem
Gebäude
stand
ein
Motor,
dessen
Abgase
über
Rohrleitungen
in
die
Gaskammern
geleitet
wur-den,
sodass
die
Opfer
an den Abgasen erstickten. Dies dauerte etwa 20 – 30 Minuten.« […]
»Im
Lager
III,
dem
eigentlichen
Vernichtungsbereich,
wurden
Juden
gefangen
gehalten,
zu
deren
Ausgaben
es
gehörte,
die
Leichen
aus
den
Gaskammern
zu
entfernen,
die
Körperöffnungen
nach
versteckten
Wertsachen
zu
untersuchen,
Goldzähne
her-ausbrechen
sowie
später
bei
der
Verbren-nung
der
Leichen
zu
helfen.«
Manche stören sich bereits an dieser Fragestellung.
Ein Einwand lautet,
jedes geschichtliche Ereignis sei einzigartig.
Nicht die Unterschiede zwischen den einschlägigen Geschehnissen seien entscheidend.
Entscheidend
sei
es,
versteckte
Gemeinsamkeiten
zu
erkennen,
beispielsweise
alle
Epochen
durchkreuzende Muster rassistischen Denkens zu erfassen und zu verstehen.
Der
Blick
zurück
auf
die
Shoah,
solle
nicht
dem
»Ranking«
des
Bösen
dienen,
sondern
dem
Versuch,
aus
der Geschichte zu lernen, wie man neuer Barbarei wirkungsvoll entgegenwirken könne.
Das ist ebenso richtig wie falsch:
Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen.
Man
kann
die
Frage
nach
der
Einzigartigkeit
der
Shoah
mit
einem
klaren
Ja
beantworten
und
die
Auseinandersetzung mit der NS-Zeit trotzdem als Lernfeld nutzen.
Ein
zweiter
Einwand
besteht
in
der
Behauptung,
die
Einzigkeit
der
Shoah
zu
hinterfragen,
entspreche
bereits
dem
Versuch,
den
Massenmord
an
den
europäischen
Jüdinnen
und
Juden
zu
bagatellisieren
und
kleinzureden.
Wer
die
Shoah
als
»Vogelschiss«,
später
gar
als
»Fliegenschiss«
bezeichnet,
der
will
die
Shoah
tatsächlich
als
hässliche
Nebensache
abtun,
der
will
seine
rechtsradikale
Ignoranz
zum
Maßstab
gesellschaftlichen Handelns erheben.
Ganz
anderes
aber
tun
Menschen,
die
Wert
auf
eine
solide
Diskussionskultur
und
ein
Mindestmaß
an
Plausibilität
legen.
Sie
sagen,
um
beurteilen
zu
können,
ob
etwas
von
seinem
Wesen
her
einzigartig
ist,
muss
man
es
mit
anderem
vergleichen.
Diese
Prüfung
ist
der
Sache
nach
etwas
völlig
anderes
als
eine
Relativierung, als die Gleichsetzung von Unterschiedlichem.
Ist die Shoah ein einzigartiges Verbrechen?
Die Antwort ist ein Ja ohne Wenn und Aber.
Die Shoah war kein Völkermord
unter oder neben anderen.
Manchen reicht als Beleg für diese These der Hinweis:
Für den Umfang des Mordens und seine industrielle Durchführung
gibt es keine historische Entsprechung.
Doch Angaben zu Mord-Mengen und Mord-Techniken
taugen allein nicht für eine tragfähige und überzeugende Einordnung.
Die Einzigartigkeit der Shoah reicht tiefer.
Was sollte man zusätzlich bedenken?
Die
Lügengeschichte
von
den
»Herren-
und
Untermenschen«
wurde
von
den
Nazis
exzessiv
exekutiert,
um eine neue soziale Ordnung und Wirklichkeit zu schaffen.
Sie
machten
keinen
Unterschied
zwischen
jüdischen
Menschen
und
toter
Materie.
Leibhaftige,
denkende,
fühlende,
hoffende,
planende
Wesen
vorgeblich
»unreinen
Blutes«
sahen
und
behandelten
die Nazis als wertlose »Abziehbilder« des NS-Klischees vom »hässlichen Juden«.
Der
Massenmord
an
den
europäischen
Jüdinnen
und
Juden
bediente
sich
der
Mittel
der
Moderne,
um
eine Herrschaft der Anti-Moderne durchzusetzen.
Der
Massenmord
an
den
europäischen
Juden
war
Teil
des
rabiaten
Versuchs,
eine
Welt
der
Mythen
und
Legenden als immerwährende, prähistorische Wahrheit zu etablieren.
Ist die Shoah ein einzigartiges Verbrechen?
Die Nazis wollten das Judentum vernichten – rigoros und auf allen Ebenen.
Sie wollten das von ihnen erfunden »jüdische Erbgut« mit Stumpf und Stiel ausrotten.
Sie
wollten
einäschern
und
vergessen
machen,
was
immer
Zeugnis
jüdischen
Lebens,
jüdischer
Kultur,
jüdischer Humanität und jüdischer Liberalität war.
Sie wollten die Ideengeschichte der Menschheit umschreiben.
Ihr Weltbild und Selbstverständnis sollten Anfang und Ende allen menschlichen Lebens sein.
Das
NS-Denken
und
das
NS-Handeln
waren
getrieben
von
einem
überbordenden
Größen-
und
Verfolgungswahn.
Das
NS-Denken
und
das
NS-Handeln
waren
getrieben
von
der
hysterischen
Vision
eines
titanischen
Endkampfes,
der
entweder
mit
der
Errichtung
eines
»tausendjährigen
Reiches«
oder
mit
einem
vom
»Weltjudentum« erzwungenen Höllenritt enden würde.
Da konnte es kein »Pardon geben«:
Namen wurden zu Nummern eingeschmolzen.
An-
und
abschließend
raubte
man
den
Ab-Genummerten
das
Leben.
Die
Opfer
kamen
nicht
»zu
Tode«,
sie
wurden ermordet – vorsätzlich, heimtückisch, grausam und aus niederen Beweggründen.
Die Täterabsichten, die Ideologie und die Mechanik des NS-Staates waren singulär
und werden sich in dieser Form nicht wiederholen.
Die
Banalität
niederer
Beweggründe
und
der
Höhenrausch
magischen
Denkens
bildeten
eine
NS-typische
Melange
–
doch
in
dieser
tiefbrauen
Mischung
schwimmen
ohne
Frage
antisemitische
Gedanken-
und
Handlungsmuster
mit,
die
sowohl
früher
wie
später
ihre
fürchterliche
Wirkung
entfal-tet
haben.
Einige
dieser Mechanismen werden unter dem Stichwort »Antisemitismus der Neuzeit« näher beschrieben.
Fazit:
Vom
Besonderen
auf
das
Allgemeine
zu
schließen,
ist
auch
dem
nicht
verwehrt,
der
das
Besondere
als
Besonderes respektiert, ihm seine Einzigartigkeit nicht abspricht.
Völlig
in
die
Irre
führt
im
Übrigen
die
Unterstellung,
man
könne
nicht
von
der
Einzigartigkeit
der
Shoah
reden,
ohne
die
unterschiedlichen
Opfer
des
NS-Regimes
in
zwei
Klassen
einzuteilen
–
die
Wichtigen
und die weniger Wichtigen.
Die Wirklichkeit sah schon immer anders aus und ist es noch heute:
Man kann der verfolgten und ermordeten Sinti und Roma sowie der verfolgten und ermordeten
Jüdinnen und Juden gleichermaßen gedenken.
Man kann der verfolgten und ermordeten Christen und Zeugen Jehovas sowie der verfolgten
und ermordeten Jüdinnen und Juden gleichermaßen gedenken.
Man kann der verfolgten und ermordeten Sozialdemokraten, Kommunisten, Anarchisten, der
konservativen und liberalen Regimegegner gedenken – ob jüdisch oder nicht.
Man kann der als »geborene Verbrecher und Asoziale«, der als »Krüppel«, »Schwachsinnige«,
»Irre« abgestempelten, verfolgten und ermordeten Menschen gedenken – ob jüdisch oder nicht.
Man kann der verfolgten und ermordeten Homo-sexuellen gedenken, die als einer »wider-
natürlichen Unzucht« verfallene »Volksschäd-linge«, »Triebtäter«, »Sittenstrolche« und »Kinder-
schänder« verleumdet wurden – ob jüdisch oder nicht.
Das singuläre Verbrechen an den europäischen Juden
schmälert und relativiert
das den anderen Opfergruppen zugefügte Unrecht
um keinen Deut.
Wiesbaden, Nassauer Volksblatt 6. und 7. April 1934
Fortsetzungsroman »Konzentrationslager«
Der Antisemitismus
ist ein Gestaltwandler und Wiedergänger.
Seit Jahrtausenden befeuchten Krisen, Konflikte
und Katastrophen diesen Saugschwamm der Verschwörungsgedanken.
Seit Jahrtausenden nimmt der Antisemitismus tonangebende Glaubenssätze und Ideologien,
Erkenntnisse und Deutungsmuster auf, verwandelt das Halbverdaute in Gift und Galle.
Manches reicht weit zurück:
Der
Alleinstellungsanspruch
des
christlichen
Monotheismus
lag
von
Anfang
im
gnadenlosen
Kampf
mit
seiner
mosaischen
Herkunft.
Die
Kirchen-väter
und
ihre
Nachfolger
nährten
den
Hass
auf
Judas
und
sein
vorgeblich
verdammtes
Volk
immer
wieder
bis
zum
Platzen.
Auch
unchristliche
Furcht
vor
bösen
Mächten
und
Dämonen
suchte
nach
Missetätern
und
»Brunnen-vergiftern«
aus
Fleisch
und
Blut,
derer
man
leicht
habhaft
werden
konnte.
Dazu
passende
Pogrome,
Lynchprozesse
und
Morde
kosteten
viele
Jüdinnen
und
Juden
das
Leben.
Eine Zeitenwende des Antisemitismus erfolgte
gegen Mitte des 19. Jahrhunderts.
Zwei Großereignisse wissenschaftlichen Fortschritts verschafften dem Verfolgungswillen neue Nahrung.
Antisemitismus der Neuzeit
Erstens:
Am
24.
November
1859
veröffentliche
Charles
Darwin
sein
Hauptwerk
»On
the
Origin
of
Species«
(Über
die
Entstehung
der
Arten).
Darwins
Thesen
von
natürlicher
Anpassung,
von
Selektion
und
Kooperation
als
Quellen
der
Arten-vielfalt
wurden
zu
menschenverachtenden
Gesell-schaftstheorien
zweckentfremdet,
die
behaupteten,
nur
die
Stärksten
und
Erfolgreichsten
hätte
ein
Recht
auf
Überleben
und
die
Pflicht,
Schwächere
zu
unterwerfen,
zu dezimieren und zu liquidieren.
Was den Starken auszehrt, muss weg.
Was mehr kostet als es leistet, muss weg.
Zweitens:
Pest
und
Cholera
galten
lange
als
Strafe
Gottes
oder
unabwendbares
Schicksal.
Den
Beweis
dafür,
dass
diese
und
viele
andere
Ansteckungskrankheiten
nicht
durch
schlechte
Luft
und
faulendes
Wasser
entstehen,
sondern
durch
winzige
Keime
und
Erreger
verursacht
werden,
erbrachten
systematische
naturwissenschaftliche
Forschungsar-beit
und
beiläufige
Entdeckungen:
Den
Erreger
der
Cholera
hat
Filippo
Pacini
erstmals
1854
beschrieben,
1883
wurde
er
von
Robert
Koch
im
Darm
von
an
Cholera
Gestorbenen
nachgewiesen.
1894
konnte
Alexandre
E.
J.
Yersin ein Bakterium als Pestverursacher dingfest machen.
Das
Wissen
über
Bakterien,
Bazillen,
Parasiten
war
praktisches
Wissen.
Aus
ihm
ließen
sich
wirksame
Methoden
der
Vorbeugung
und
Krankheitsbehandlung ableiten.
Diese Erfolge beflügelten leider auch brandgefährliche politische Visionen:
Was sich im Kleinen (dem Reich der Mikrobiologie und Pharmakologie) praktisch bewährt hatte,
sollte auch im größeren Maßstab (der Gesellschaftspolitik) gelten.
Tatsächliche Vorgänge auf zellulärer Ebene wurden in Gleichnisse des sozialen Mit- und Gegeneinanders umgedeutet,
ungeliebten Mitmenschen wies man ohne Skrupel die Recht- und Schutzlosigkeit von Mikroben zu.
So notierte Adolf Hitler 1924/25 auf Seite 334 seiner Programmschrift »Mein Kampf«:
»[Der
Jude]
ist
und
bleibt
der
ewige
Parasit,
ein
Schmarotzer,
der
wie
ein
schädlicher
Bazillus
sich
immer
mehr
ausbreitet,
sowie
nur
ein
günstiger
Nährboden
dazu
einlädt.
Die
Wirkung
seines
Daseins
aber
gleicht
ebenfalls der von Schmarotzern: wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab.«
Auch
die
antisemitische
Wochenzeitschrift
»Der
Stürmer«
bediente
sich
1927
dieses
Stereotyps,
um
Jüdinnen und Juden ihr Lebensrecht abzusprechen:
»Das jüdische Volk ist das größte Parasitenvolk der Welt. Es ist nicht wert, daß es existiert.«
Propaganda-Aktion der Wiesbadener SA, 1930; Stadtarchiv Wiesbaden
Tatsache ist:
Wer
über
zwischenmenschliche
Konflikte
spricht,
als
handle
es
sich
um
Störungen
der
Körperhygiene
oder
der
Darmflora,
wer
andere
Menschen
mit
Ungeziefer
oder
Krankheitskeimen
gleichsetzt,
der
richtet
keinen
belanglosen
Metaphern-Salat
an,
sondern
macht
sich
brutaler
Hetze schuldig.
Jüdinnen und Juden
sind keine »Bazillen« oder »Parasiten«.
Der »gesunde Volkskörper« ist keine lebendige Realität, sondern ein gedankliches
Konstrukt von brutaler Gefährlichkeit.
Die
Gleichsetzung
eines
»Wir«
mit
Gesundheit
und
eines
»Nicht-Wir«
mit
Krankheit,
Ansteckung,
Verderbnis
war
in
wissenschaftlicher
Hinsicht
blanker
Unsinn
und
in
moralischer
Hinsicht
höchst
verwerflich.
Doch
bei
Moral
und
Glauben
verhielt
sich
die
NS-Ideologie
auch
in
anderer
Hinsicht
extrem
verhaltensauffällig.
So
sticht
ins
Auge,
mit
welcher
Skrupellosigkeit
sie
Anleihen
bei
theologischen
Auferstehungsgedanken machte Man schwärmte von einer »Wiedergeburt« des deutschen Volkes.
Adolf Hitler wurde gepriesen als ein von »der Vorsehung auserkorenes«, fast schon höheres Wesen.
Das NS-Regime pflegte eine verweltlichte »Messias«-Verehrung.
Die
Vorgaben
»ein
Volk«,
»ein
Reich«
steckten
dabei
die
»Gemeinde«-Grenzen
ab
–
kein
Platz
für
»Artfremde« und »Abtrünnige«.
Zu
solchen
Glaubensinhalten
passte
keine
frohe
Botschaft
der
Nächstenliebe,
sondern
allein
die
Ankündigung der »Ausmerzung« alles Fremden.
Heute
richten
sich
viele
Hoffnungen,
Wunschfantasien
und
Erwartungen
auf
die
Zukunft
der
Digitalisierung.
Konjunktur
hat
aber
auch
die
Angst
vor
»Datenkraken«,
»Totalüberwachung«,
und »dem Ende der Privatheit«.
In
solchen
Zeiten
des
Umbruchs
ist
die
Gefahr
groß,
dass
einmal
mehr
Betrachtungsebenen
wild
durcheinandergewirbelt
werden,
Versuche
einer
mühsamen
Einfriedung
realer
Gefahren
ersetzt
werden durch eine hochaggressive Legenden-bildung.
Die
ungeschriebenen
Gesetze
des
strukturellen
Antisemitismus
sorgten
dafür,
dass
dies
jüngst
folgende
bizarre
Gestalt
annahm:
Personen
wie
George
Soros
oder
Bill
Gates
wurden
und
werden
verdächtigt,
Agenten
des
»Great
Reset«
zu
sein
–
Strippenzieher
einer
geheimen
Marionetten-
Regierung der ganzen, weiten Welt.
Wie bei den 1903 in Umlauf gebrachten, gefälschten »Protokollen der Weisen von Zion«
gilt auch heute zweierlei.
Erstens: Man muss Lügen nur oft genug wiederholen und schon werden sie zum »Zitat«,
zur allgemein bekannten »Wahrheit«.
Zweitens: Besonders glaubwürdig ist, was ein besonders tiefes Bedürfnis befriedigt.
Ein
solches
Bedürfnis
ist
es,
einen
Urgrund
für
alles
Schlechte
in
der
Welt
zu
finden
–
jemanden,
dem
das
»Böse«
nutzt,
der
vom
Leid
anderer
profitiert,
jemanden,
den
man
nur
liquidieren
muss,
und alles Elend löst sich in Wohlgefallen auf.
Breit
verkündete
Verdächtigungen
und
Schuldzuweisungen
mögen
noch
so
absurd
sein,
es
finden
sich immer hinreichend »Wach-Schafe«, die sie gerne wiederkäuen.
Besonders
viele
Mit-Hasser
und
Mit-Hetzer
kann
regelmäßig
hinter
sich
versammeln,
wer
»Welt-
Leid-Verantwortliche« ausdeutet, die einer kleinen gesellschaftlichen Minderheit angehören.
Der Antisemitismus ist fruchtbar noch,
seine Regenerationskraft ungebrochen.
Der Antisemitismus
war schon immer eine Farce.
Der Antisemitismus ist trotzdem
alles andere als lächerlich.
Der Antisemitismus ist nicht
irgendein »Problem« – für Jüdinnen und Juden ist er mörderisch.
»Im
Schatten
von
Auschwitz:
Spurensuche
in
Polen,
Belarus
und
der
Ukraine«
,
Seiten
87
ff.;
Hg.
Langebach,
Martin;
Liever,
Hanna,
Bonn
2017,
BZgA;
ISBN
978-3-8389-7167-4.
Bildnachweis:Wikipedia