Aktuelles Erinnerungsblatt I
Judenhäuser in Wiesbaden
Wozu »Judenhäuser«?
Die Einrichtung von »Judenhäusern« folgte eindeutigen Absichten.
Sie diente nachweislich der Enteignung, Entrechtung, Ausgrenzung, Kontrolle von Jüdinnen und Juden
sowie der Vorbereitung der Deportation und des organsierten Massenmords.
»Judenhäuser« als Instrumente der Kontrolle und Ausgrenzung
Die Judenfrage müsste jetzt
mit allen Mitteln angefasst werden,
denn sie müssten aus der Wirtschaft raus. […]
Generalfeldmarschall
Hermann
Göring
kam
in
einer
Sitzung
im
Reichsluftfahrt-ministerium
am
14.
Oktober
1938
–
wie
es
im
stenografischen
Protokoll
heißt
–»auf
das
Judenproblem
zu
sprechen.
Die
Judenfrage
müsste
jetzt
mit
allen
Mitteln
angefasst
werden,
denn
sie
müssten
aus
der
Wirtschaft
raus.
[…]
Er
verwies
auf
die
Möglichkeit,
für
die
aus
ihren
bisherigen
Unterkünften
entfernten
Juden
im
Notfall
[…]
Ghettos in den einzelnen Großstädten ein[zu]richten. «
Die Kontrolle des Juden
durch das wachsame Auge
der gesamten Bevölkerung ist besser,..
Wohneinheiten
und
Sammelstellen
für
Jüdinnen
und
Juden
stark.
Derartige
»Judenhäusern«
mit
hoher
Wohndichte
hielt er für die geeigneteren Kontrollobjekte.
Mit dieser Auffassung
setzte Heydrich
sich weitgehend durch.
Am
28.
Dezember
1938
erließ
Hermann
Göring
in
seiner
Funktion
als
»Beauftragter
des
Vierjahresplans«
eine
zunächst
noch
geheime
Richtlinie,
mit
der
die
Umsiedlung
der
Jüdinnen
und
Juden
in
»Judenhäuser«
durchgesetzt
werden sollte.
Die
Zusammenführung
von
Jüdinnen
und
Juden
in
einer
überschaubaren
Zahl
von
Liegenschaften
erleichterte
ohne
Frage
ihre
Überwachung
und
sicherte
den
NS-Häschern
einfache Zugriffsmöglichkeiten.
Der
Versuch
einer
räumlichen
Absonderung
der
jüdischen
von
nicht-jüdischen
Bevölkerungsteilen
war
zugleich
Teil
einer
umfassenderen
Strategie
der
sozialen
Isolation
und
Stigmatisierung.
Reinhard Heydrich dazu wörtlich:
»Da
die
Juden
jede
Möglichkeit
benutzen,
um
sich
auch
weiterhin
zu
tarnen,
erweist
es
sich
als
notwendig,
die
Kennzeichnung
der
Wohnungen
von
Juden
durchzuführen«.
Mit
Runderlass
vom
13.
Februar
1942
wurde
verfügt,
dass
die
Wohnungen
und
Häuser
von
Jüdinnen
und
Juden
mit
einem Stern zu kennzeichnen sind.
Detailversessen hieß es:
»Die
Kennzeichnung
hat
durch
einen
Judenstern
aus
Papier
zu
erfolgen,
der
in
Form
und
Größe
dem
[…]
vorgeschriebenen
Kennzeichen
entspricht,
jedoch
in
weißer
Farbe
gehalten
wird,
damit
er
sich
von
den
meistenteils
braunen
Türen
besser
abhebt.
Das
Kennzeichen
ist
unmittelbar
neben
dem
Namensschild
oder
in
Ermangelung
eines
solchen
sonst
wie
am
Wohnungseingang
von
außen
und
für
jedermann
sichtbar
durch Aufkleben zu befestigen.«
denn
jeder
Sternjude
trug
sein
Ghetto
mit
sich, wie eine Schnecke ihr Haus.«
Selbst
damit
gaben
sich
die
Nazis
nicht
zufrieden,
sie
wollten
auch
eine
gut
sichtbare
Stigmatisierung
auch
an
Ort und Stelle.
Die
Nazis
hatten
das
Judentum
zum
»Hass-Objekt«
auserkoren.
Darüber,
wie
man
dieses
»Hass-Objekt«
am
besten
unter
Kontrolle
halten
könne,
gab
es
zunächst
durchaus unterschiedliche Vorstellungen:
Gegen
eine
Umsetzung
dieser
Ghetto-Strategie
wandte
sich
Reinhard Heydrich,
Leiter des Reichssicherheitshauptamts mit den Worten:
»Das
Ghetto
in
der
Form
vollkommen
abgesonderter
Stadtteile,
wo
nur
Juden
sind,
halte
ich
polizeilich
für
nicht
durchführbar.
[…]
Die
Kontrolle
des
Juden
durch
das
wachsame
Auge
der
gesamten
Bevölkerung
ist
besser,
als
wenn
Sie
die
Juden
zu
tausenden
und
aber
tausenden
in
einem
Stadtteil
haben,
wo
ich
durch
uniformierte
Beamte
eine
Überwachung
des
täglichen
Lebenslaufes
nicht
herbeiführen
kann.«
Heydrich
machte
sich
stattdessen
für
die Einrichtung von konzentrierten
Deren
bekanntester
Terrorakt
bestand
ohne
Frage
in
der
am
19.
September
1941
in
Kraft
gesetzten
»Polizeiveror-
dnung
über
die
Kennzeichnung
der
Juden«,
die
alle
Betroffenen
im
Deutschen
Reich
zum
Tragen
des
»Judensterns« verpflichtete.
Mit
dieser
Kennzeichnungspflicht
verband
sich
das
Verbot,
die Wohngemeinde ohne Erlaubnis zu verlassen.
In
seinem
1966
erschienenen
Buch
»Die
unbewältigte
Sprache« merkte sein Autor Victor Klemperer dazu an:
»Jetzt,
da
der
Judenstern
eingeführt
war,
tat
es
nichts
mehr
zur
Sache,
ob
die
Judenhäuser
zerstreut
lagen
oder
ein eigenes Viertel bildeten,
In
dem
Märchen
»Ali
Baba
und
die
vierzig
Räuber«
schützt
die
kluge
Dienerin
Mardschana
ihren
Herrn
Ali
Baba,
indem
sie
die
massenhafte
Kennzeichnung
von
Häusern
auf
die
Spitze treibt.
Die
Nazis
trieben
die
Kennzeichnung
von
Häusern
auf
die
Spitze, um etwas ganz anderes deutlich zu machen:
Wer hier wohnt, ist ein »Untermensch«, ist »Freiwild«.
Auch eine Diktatur kennt
die »Mühen der Tiefebene«
Von Führung und Kontrolle zu reden, ist das eine.
Diese Absichten effizient umzusetzen, das andere.
Der »NS-Staat« kannte keine Gnade.
Aber der »NS-Staat« war keine Diktatur aus einem Guss.
Das
»Führerprinzip«
sicherte
konkurrierenden
Macht-trägern
in
den
Parallel-
Universen
von
Parteigliederungen,
Justiz
und
Verwaltung,
Reichswehr,
Wirtschaftsverbänden
etc.,
etc.
weitreichende
Befugnisse
zu,
die
oft
auf
Kolli-
sionskurs lagen und sich wechselseitig blockierten.
Zudem
funktioniert
auch
ein
mit
rechtlichen
Vorschriften,
finanziellen
Sanktionen
und
Anreizen
gefügig
gemachter
Privatsektor
nicht
durchgängig
nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam.
Ein
weiteres
Handicap
bildeten
die
von
der
radikalen
antisemitischen
Staatsideologie
befeuerten
Erwartungen
und
Begehrlichkeiten.
Sie
entfalteten
immer wieder eine Eigendynamik, die Herrschaftsinteressen torpedierte.
Deshalb gilt:
Der »NS-Staat« konnte nicht immer, wie er wollte.
Vieles entfaltet sich
»den Umständen entsprechend« wildwüchsig.
An Orten, wo dies möglich war, ging man aufs Ganze.
Andernorts ging man eher den Weg
des geringsten Widerstandes.
Bei der Einrichtung der Wiesbadener »Judenhäuser«
wird dies überdeutlich.
Willy
Rink
erzählt,
dass
die
Trennlinien
in
seinem
Wohnhaus
und
-viertel
vor
1933
nicht
zwischen
Juden
und
Nichtjuden
verliefen,
sondern
zwischen
arm
und
reich,
zwischen
Arbeiterschaft und Kleinbürgertum.
Die
Hermannstraße
26
wurde,
wie
fast
alle
anderen
Wiesbadener
»Judenhäuser«
auch,
bis
zuletzt keineswegs ausschließlich von Angehörigen der verfemten »Rasse« bewohnt.
Vielmehr
lebten
auch
hier
mehrheitlich
»arische«
Familien,
die
in
diesen
wohnungspolitisch
schwierigen
Zeiten
ihre
eigenen
vier
Wände
keinesfalls
aufgeben
wollten.
Nach
seinem
Einzug
war
Artur
Ackermann
zunächst
noch
als
Respektsperson
wahrgenommen
worden.
Als
national
eingestellter
Jude
war
er
stolz
darauf,
im
Ersten
Weltkrieg
sein
Leben
für
das
»Vaterland« gewagt zu haben.
Hermannstraße 26
»Juden und Nichtjuden
unter einem Dach«
Ackermann
Arthur
Deportation 10. Juni 1942
Ackermann
Cilli (Klara)
Deportation 10. Juni 1942
Bronne
geb. Beisinger,
Emilie Emma
Umzug nach Stiftstr. 14 III Deportation 10. Juni 1942
Bronne
Gertrud
Umzug nach Stiftstr. 14 III Deportation 10. Juni 1942
Bronne
Ruth
Umzug nach Stiftstr. 14 III Deportation 10. Juni 1942
Bronne
Ludwig
Umzug nach Stiftstr. 14 III Deportation 10. Juni 1942
Feibel
Ferdinand
Deportation 1. September 1942
Feibel
geb. Guthmann, Ida
Deportation 1. September 1942
Isselbächer
Eleonore
Emigration 8. Apil 1939
Isselbächer
Hermann
Emigration 8. Apil 1939
Isselbächer
geb. Strauss, Karolina
Emigration 8. Apil 1939
Landau
Emil Ludwig
Deportation 10. Juni 1942
Löwenstein
Hermann
Deportation 10. Juni 1942
Löwenstein
Ilse
Deportation 10. Juni 1942
Löwenstein
geb. Vogel, Selma
Deportation 10. Juni 1942
Scher
geb. Ackermann, Elsa Rosa
Emigration 9. Februar 1940
Scher
Raffael
Emigration 9. Februar 1940
Sichel
Heinrich
Umzug in die Rheingauerstr. 5,
Selbstmord am 21. August 1942
Strauss
Josef
Emigration 8. Apil 1939
Strauss
Julius
Emigration 8. Apil 1939
Strauss
geb. Bender, Karoline
Deportation 1. September 1942
Strauss
Liebmann
Deportation 1. September 1942
Wolf
Albert
Umzug 15. Dezember 1940, Umzug 15. Dezember 1940,
im jüdischen Krankenhaus Mainz
am 26. Dezember 1941 verstorben
Wolf
Ernst Siegmund
Deportation 1. September 1942
Wolf
geb. Feibel, Hilda
Deportation 1. September 1942
Wolf
Inge
Deportation 10. Juni 1942
Willy Rink schildert Szenen grausamer Demütigung:
»Ich
sehe
und
höre
Herrn
Ackermann
immer
noch,
wie
er,
auf
seine
schwarz-weiß-rote
Ordensspange
am
Revers
deutend,
den
Kindern
zurief,
er
habe
im
Weltkrieg
als
deutscher
Soldat
gedient
und
sei
wegen
erwiesener
Tapferkeit
ausgezeichnet
worden.
Er
sei
Deutscher
so
wie
ihre
Eltern
und
sie,
die
frechen
Kinder.
Dabei
hatte
er
Tränen
in
den
Augen,
zitterte
am
ganzen
Körper,
machte
hilflose
Handbewegungen,
verlor
die
Sprache
und
verließ
die
Szene.
Hilflose
Reaktionen,
die
die
Kinder
nur
zu
lauterem
Lachen
und
neuerlichem
‚Jud,
Jud,
Jud’
ermunterten.
Dem
gleichen
Verhalten
sahen
sich
Frau
Ackermann,
später
auch
die
Löwensteins,
die
Wolfs
und
die
Strauss
ausgesetzt,
nachdem
sie
in
unser
Haus
eingewiesen
worden
waren.
Ich
erinnere
mich
nicht,
dass
ein
Erwachsener
den
Kindern
jemals Einhalt geboten hätte.«
Kirchgasse 43
Dem Namen nach war
dieses Gebäude kein »Judenhaus«.
Im Pflaster sind acht Stolpersteineverlegt.
Auch auf die letzte Wohnstätte von
Erna Loeb und Dr. Alfred Loeb
wird glänzend aufmerksam gemacht.
Sie wurden
am 10. Juni 1942 deportiert.
Hirschkind
Siegmund
Deportation 10. Juni 1942
Hirsch,
geb. Loeb, Anna
Deportation 10. Juni 1942
Jacobsohn
Julius
Deportation 10. Juni 1942
Jacobsohn
geb. Cohn, Hedwig
Deportation 10. Juni 1942
Krizek
geb. Lang, Hermine
Deportation 10. Juni 1942
Löb Dr.
Alfred
Deportation 10. Juni 1942
Löb
Erna
Deportation 10. Juni 1942
Hallgarter Straße 6
Abraham
geb. Kahn, Paula
Deportation 1. September 1942
Baruch
Lilly
Deportation 1. September 1942
Baruch
Ludwig
Deportation 1. September 1942
Danneboom
Julius
Emigration
Danneboom
Max/Markus
Emigration
Danneboon
geb. Löwenstein, Regina
Emigration
Gottschall
Jakob
Deportation 1. September 1942
Haas
Berthold
Deportation 1. September 1942
Haas
geb. Müller, Clothilde
Deportation 1. September 1942
Kahn
Emil
Deportation 1. September 1942
Kahn
Julius
Deportation 1. September 1942
Kahn
geb. Blumenthal, Martha
Deportation 1. September 1942
Haas,
Eugenie
Deportation 10. Juni 1942
Katz
Amalie
Deportation 1. September 1942
Levy
Arthur
Deportation 10. Juni 1942
Levy
Emma Lucie
Deportation 10. Juni 1942
Levy
geb. Hirschheimer, Irma
Deportation 10. Juni 1942
Levy
geb. Cohen, Karolina Lina
Deportation 1. September 1942
Levy
Mathilde
Deportation 1. September 1942
Löwenthal
Julius
Umzug
Rose
geb. Fraenkel, Clara
Deportation 1. September 1942
Wolf
Hanna
Deportation 10. Juni 1942
Umsiedlung
Da, wo man Jüdinnen und Juden nicht haben wollte, sollten sie raus – dort
wo man sie haben wollte, sollten sie rein.
Das an 30. April 1939 beschlossene »Gesetz über die Mietverhältnisse mit
Juden« sorgte für klare, antisemitische Verhältnisse:
Ab diesem Zeitpunkt konnte Jüdinnen und Juden ihre Wohnung unabhängig
von der Vertragsdauer gekündigt werden.
Schwalbacher Straße, Nr. 57-59-61 (v.r.n.l.), 1918
Luisen/Ecke Bahnhofstraße Nr. 15, links Nr. 17, 1912
Kaiser-Friedrich-Ring Nr. 72, 1911
Am Römertor 2
Leberweg 5, 1907
Berney, Felix
Deportation 10. Juni 1942
Berney, geb. Katz, Rosalie
Deportation 10. Juni 1942
Kaplan, Adolf
Deportation 10. Juni 1942
Berney, Heinrich
Deportation 10. Juni 1942
Berney, Lina
Deportation 10. Juni 1942
Berney, Bettina
Deportation 10. Juni 1942
Meyer, Olga
Deportation 10. Juni 1942
Marxheimer, Gertrud
Deportation 10. Juni 1942
Kaiser-Friedrich-Ring 64
David, geb, Heymann, Margarete
Deportation 10. Juni 1942
Langgasse Nr. 8-10-12-14, 1910
Blumenthal, Richard
Deportation 10. Juni 1942
Blumenthal, Harri
Deportation 10. Juni 1942
Blumenthal, geb.
Deportation 10. Juni 1942
Schwarz, Hilde
Deportation 10. Juni 1942
Schwarz, Isaak
Deportation 10. Juni 1942
Schwarz, geb. Kahn, Lina
Deportation 10. Juni 1942
Kapellenstraße, links Nr. 18-20, 1906
Jahl, Karla
Deportation 10. Juni 1942
Kaiser-Friedrich-Ring Nr. 80-82, 1909
Briefwechsler, geb.
Deportation 10. Juni 1942
Blumenthal, Paula
Briefwechsler, Walter
Deportation 10. Juni 1942
Kahn, Julius
Deportation 10. Juni 1942
Kahn, geb. Kahn, Erna
Deportation 10. Juni 1942
Kahn, Lore
Deportation 10. Juni 1942
Terhoch, geb.
Deportation 10. Juni 1942
Obermayer, Emma
Terhoch, Heda
Deportation 10. Juni 1942
Terhoch, Irma
Deportation 10. Juni 1942
Neugasse Nr. 2-4, 1909
Golomb, Leo
Deportation 10. Juni 1942
Levy, Edith
Deportation 10. Juni 1942
Peusner, Willy
Deportation 10. Juni 1942
Schönberg,
Deportation 10. Juni 1942
geb. Steinberg, Rosa
Zwergel, Margarete
Deportation 10. Juni 1942
Emser Straße 2, 1907
Lanzstraße 3, 1908
Lanzstraße 6, 1911
Glogowski Dr.,
Arnold
Deportation 10. Juni 1942
Glogowski,
geb. Lewin-
Deportation 10. Juni 1942
berg, Gertrud
Meyer,
Dorothea
Deportation 10. Juni 1942
Levi,
Deportation 10. Juni 1942
Johanna
Kaiser-Friedrich-Ring
Aus den Hausnummern 20, 43, 65 wurden sechs weitere Personen am 10. Juni 1942 deportiert.
Bilder: Daten-, Plan- und Bild-Archiv Bubner, Mainz; Kaiser-Friedrich-Ring 64, Stadtarchiv Wiesbaden
Stadtarchiv Wiesbaden
Karte:Sammlung Klaus Flick
»Lauschend vergessen die Mädchen ihre Angst und rühren sich lange
nicht, bis die Tür sich plötzlich öffnet.
Ein gebückter aller Mann, die Haut wächsern, steht vor ihnen. Sie sind sich
sicher, dass er sie fragen wird, was sie hier wollen, doch sein Blick geht
durch sie hin durch. Seine Hose ist zu weit und wird nur von einem alten
Gürtel gehalten. Ohne die Mädchen wahrzunehmen, schleicht er an ihnen
vorüber. Aber Hatü erkennt ihn wieder und die Erinnerung lässt sie
erstarren.
Wie sie mit der Mutter zum Einkaufen ging, früh am Morgen, und plötzlich
war da Glas auf dem Bürgersteig und knirschte unter ihren Schritten, und
es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass es die Scheiben der
Geschäfte waren, an denen sie vorbeigingen. Überall hingeschmierte
Davidsterne an den Türen.
[ ]
Dann standen sie vor einem Mann, der in den Scherben seines
Schaufensters kniete, in Resten der Etagen und Regale, herausgerissen
und zertrampelt mitsamt den Hüten und Mützen, die gestern wohl noch
sorgsam darauf drapiert gewesen waren.
Das war er gewesen.«
»Sie sieht die alte Frau Friedmann vorübergehen. Die trägt den gelben
Stern. Hatü kennt Frau Friedmann und ihren Mann, weil die beiden früher
in dem herrschaftlichen Haus neben der Schule gewohnt haben, zu dem
die alte Frau jetzt hinüberspäht. Sie hat oft auf den breiten Stufen vor der
Tür gestanden und mit Schülerinnen gesprochen, nun sind die
Fensterläden verrammelt. Mussten verkaufen, hat die Mutter erklärt. Mit
dem Geld wollten sie auswandern, doch das ist offenbar nicht gelungen.«
»Herzfaden« - Roman der Augsburger Puppenkiste von
Thomas Hettche, Kiepenheuer & Witsch,
September 2020, Seiten 27, 30-31
aus: »Herzfaden«
Roman der Augsburger Puppenkiste
Die Hermannstraße 26 heute. Foto: Klaus Flick
oben rechts: Das ehemalige Judenhaus in der Hallgarter Str. 6.
Foto Klaus Flick.
oben: Das ehemalige Judenhaus in der
Hallgarter Str. 6-früher. Sammlung M. Sauber.
Mit freundlicher Genehmigung.
Letzte Wohnorte
Alte Ansichten
AMS-Erinnerungsblatt an Arthur und Cilli (Chaja/Klara) Ackermann.
Bunker – ach, so nah und ach, so fern!
Mit
dem
Überfall
der
deutschen
Wehrmacht
auf
Polen
am
1.
September
1939
begann
der
Zweite
Weltkrieg.
Es
folgten
Invasion
um
Invasion,
Angriff
um
Angriff.
Die
deutschen
Attacken
kosteten
Millionen
Tote.
Die
Versklavung
und
Ausplünderung
großer
Teile
Europas
sorgten
für
weiteres
schreckliches
Leid.
Der
Krieg
wurde
vom
NS-Regime
in
andere
Länder
getragen.
Am
Ende
kehrte
der
Krieg
mit
voller
Gewalt
nach
Deutschland zurück.
Den schwersten Luftangriff während des Zweiten Weltkrieges erlebte Wiesbaden in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar 1945.
Dabei starben weit mehr als 500 Menschen, 28.000 wurden obdachlos.
Eigenes
Leid
und
eigenen
Schmerz
darf
man
beklagen.
Eigenes
Leid
und
eigenen
Schmerz
machen
eigene
Täterschaft
oder
Mittäterschaft
nicht
ungeschehen.
Leid
und
Schmerz
lassen
sich
nicht
gegen
Schuld
oder
Mitschuld
aufrechnen.
Schuld
ist
keine
Recheneinheit.
Leid
ist
keine
Recheneinheit. Beide stehen für sich.
Die
Dramatik
großen
Leids
und
hoher
Opferzahlen
machen
nur
allzu
leicht
vergessen,
wie
früh
die
Menschen
in
Wiesbaden
und
anderswo
in
Deutschland mit Fliegeralarm und Bunkernächten erste Bekanntschaft machten, wie früh sich Angst und Schrecken in den Alltag einnisteten.
Kurze Auszüge aus dem Buch »Nachbarn – Bahnhofstraße 44/46«
von Veronika Moos belegen das eindrucksvoll:
»4. September 1939, Heinrich [Moos] an Hildegard [Moos], Wiesbaden nach Villingen
Heute früh […] hatten wir um halb sechs Fliegeralarm von sehr kurzer Dauer, als eng-lische Flugzeuge versucht haben,
über Holland nach Deutschland einzufallen. […]«
»6. Juli 1940, Hildegard [Moos] an Heinrich [Moos], Wiesbaden nach Lèves bei Chartres
[…] Die ersten Tage da Du fort warst, waren schwer. Wir hatten alle Nacht Flieger-alarm. Seit vier Tagen ist nun Ruhe. […]«
»14./15, Juli 1940, Hildegard [Moos] an Heinrich [Moos], Wiesbaden nach Lèves bei Chartres
[…] Mein Lieb, es ist schon spät Abend geworden, ich werde wohl gleich aufbleiben bis zum Fliegeralarm. […]«
»13. August 1940, Hildegard [Moos] an Heinrich [Moos], Wiesbaden nach Vierville-sur-Mer
[…] Fünf Nächte hintereinander waren wir wieder 2-3 Stunden im Keller. Einmal sogar zweimal in der Nacht. […]«
»1. Dezember 1940, Hildegard [Moos] an Heinrich [Moos], Wiesbaden nach Frankreich, Normandie
[…] Wir saßen gerade beim Nachtessen, als die Sirenen ertönten und bald danach ging eine tolle Schießerei los. […]«
»6. Mai 1941, [Sohn] Gerhard [Moos] an [Vater] Heinrich [Moos], Wiesbaden nach Frankreich, Normandie
[…] Mein Lieber Papa! Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen. Die Flieger waren wohl bei uns und es haben auch in unserer Nähe zwei
Sprengbomben eingeschlagen. Die Scheiben und Glasdächer am Bahnhof sind ganz kaputt. In der Wintermayerstraße sind 6 Häuser futsch.
[…]«
»6. Juli 1941, Hildegard [Moos] an Heinrich [Moos],Wiesbaden nach Caen
[…] da steht noch der volle Mond am Himmel, den ich sonst immer so gernhatte, jetzt aber mir unheimliches Grauen einflößt,
weil ich ja immer denke, die Flieger kommen, und wenn nicht zu uns, dann zu so viel anderen deutschen Menschen. […]«
Soweit das nachfühlbare »Grauen« der »nicht-jüdischen« Frau Moos aus der Bahnhofstraße 44.
Wie mögen sich 1941 angesichts der Gefahrenzuspitzung durch Luftangriffe
wohl Wiesbadenerinnen und Wiesbadener gefühlt haben, die der NS-Staat als »jüdisch« abgestempelt hat.
Für sie galt bereits seit dem 25.September 1939:
»Es ist Juden verboten, ihre Wohnungen nach 8 Uhr abends zu verlassen.«
Der nächtliche »Luftschutz« von Bunkern und Kellern war ihnen damit weitgehend verwehrt.
Luftschutzraum
und
Bunker
in
den
1940er
Jahren.
Fotograf
Willy
Rudolph.
Plakat
»Deckung
suchen«
von
1941.
Stadtarchiv Wiesbaden.
Buch:
Bahnhofstraße
44/46
|
Leben
zweier
Familien
in
Briefen;
die
Jahre
1939-42
der
»arischen«
Familie
Moos
und
der jüdischen Familie Strauss. Hrsg. Veronika Moos. Waldemar Kramer Verlag, März 2022